RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 108114 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.11).
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Traumrest und wunderlich gefärbtes Tageserleben

Reste de rêve et vécu diurne aux couleurs bizarres

Dream Residue and Strangely Colored Daytime Experience

Andreas Gehrlach

Die Tagesreste wurden intensiv psychoanalytisch erforscht, ihr strukturelles Gegenteil dagegen überhaupt nicht. Die Traumreste, die aus dem Schlaf übrig bleiben und die Tönung und Empfindung ganzer Tage prägen können, sind bisher wissenschaftlich so gut wie unerforscht. Sie sind ein unbewusstes Phänomen, das aber weit ins rationale Tageserleben hineinreicht und es umfärbt, sabotiert und in Frage stellt. Hier wird eine erste Skizze zu einer Erforschung der Traumreste versucht.

Les restes diurnes ont fait l’objet de recherches psychanalytiques intensives, mais leur contraire structurel n’a pas du tout été étudié. Les restes de rêves qui subsistent après le sommeil et qui peuvent marquer la tonalité et la sensation de journées entières n’ont jusqu’à présent pratiquement pas été étudiés scientifiquement. Il s’agit d’un phénomène inconscient qui s’étend cependant dans le vécu rationnel de la journée et qui le colore, le sabote et le remet en question. Nous tentons ici une première esquisse d’une recherche sur les restes de rêves.

Day residues have been the subject of intensive psychoanalytical research, but their structural opposite has not been studied at all. Dream residues, which can remain from sleep and shape the tone and perception of entire days, have so far been virtually unexplored. They are an unconscious phenomenon, but one that reaches far into the rational experience of the day and colors, sabotages and questions it. Here we attempt an initial sketch of an exploration of dream residues.

Die Bilder unserer Träume setzen fort, was wir im Alltag tun. Die Eindrücke des Tages bilden das Vokabular unserer Träume: »Anwälte etwa sehen sich träumend plädieren, Verträge entwerfen; noch im Traum ziehen Feldherren zum Gefecht in die Schlacht; wie im täglichen Leben führen Seeleute im Traum ihren Kampf mit den Winden fort«, schreibt Lukrez vor etwa 2000 Jahren in De rerum natura, dem vielleicht größten Werk der Theoriegeschichte.1 Wenige Anwält:innen, Feldherr:innen oder Seefahrer:innen werden zu den Leser:innen der RISS gehören, aber nicht nur sie sind die Adressat:innen von Lukrez, denn er fährt fort: »Und wir? Wir sehen uns unserer Aufgabe folgen, unentwegt die Natur der Dinge zu erforschen, und, was wir gefunden haben, in unserer Sprache auf Papyrus zu bringen.«2 Das entspricht schon eher den Arbeiter:innen der Psychoanalyse und der Kulturtheorie, die Aufsätze wie diesen schreiben oder lesen. Sie sehen sich im Schlaf rastlos am Schreibtisch sitzen, mit Schweiß auf der Stirn Vorträge ohne Manuskript halten, zu spät und unvorbereitet zu Tagungen erscheinen oder nutz- und fruchtlose Anträge entwerfen.

Die Impressionen des Wachzustands sind das Material, aus dem das Unbewusste nachts die Träume flicht und an bereits bestehende Impressionen anknüpft. Und auch wenn wir nicht gearbeitet, sondern, wie Lukrez fortfährt, den Tag mit Spielen oder dem Theater verbracht haben, setzen unsere Träume dieses Tageserleben fort. So weit ist Lukrez in seiner Erforschung der Trauminhalte ein Vorläufer Freuds und hat eine frühe Theorie des »Tagesrests« entworfen: In der Traumdeutung – die an Bedeutung nur wenig hinter De rerum natura zurückbleibt – beschreibt Freud die Tagesreste als unerledigte Wünsche, Ungelöstes, Zurückgedrängtes, unabgeschlossene Eindrücke aus dem Alltagsleben, die im Traum zur Verarbeitung drängen.3 Lukrez fährt aber fort und erzählt nicht nur von den Tagesresten, sondern auch von Traumeindrücken, die sich aus dem Schlaf in den Tag hinein fortsetzen: »Selbst hellwach meinen sie dann, Menschen tanzen zu sehen, und biegsame Glieder schwingen, […] sehen noch immer das Zuschauerrund und mit ihm die Bühne im farbenfrohen Schmuck strahlen.«4 Auch das ist ein bekanntes Phänomen: Manche Träume setzen sich als seltsame, unterschwellige Eindrücke, als emotionale Tendenzen und Empfindungsfarben in den Tag hinein fort. Es gibt Traumreste ebenso wie es Tagesreste gibt. Traumreste sind ein Erleben, das jede:r Träumer:in kennt, wo ein nur dunkel erinnerter Traum das Denken und Empfinden des Wachzustands gänzlich bestimmen kann. Rebecca Solnit spricht von den »[d]reams that I forget until I realize they have colored everything I felt and did that day«,5 und beschreibt damit treffend die sonderbare Wirkung der Traumreste, deren Färbung, deren schattenhafte Gestimmtheiten sich so schwer auf das wache Erleben legen können. Der Begriff des Traumrests kommt bei Freud nicht vor, und das Phänomen hat auch sonst bisher nur eine sehr schmale Aufmerksamkeit in der psychoanalytischen Theorie erfahren. Die Ausnahme macht hier Jean-Bertrand Pontalis, der schon einige Jahre vor Solnit das Phänomen des Traumrests erwähnt, dessen Beschreibung der Wirkung des Traumerlebens auf den Wachzustand aber kaum über diejenige Solnits hinausgeht und mit ihr fast wortgleich ist:

Der Traum indes hört damit, daß der Tag die Macht ergreift, nicht auf. Jedem von uns kann es passieren, daß er – oft ohne es zu wissen – besessen bleibt von einem Traum der Nacht, von seinen intensiven Bildern, von seinem unvollendeten Szenario, von seiner wechselnden Tonart. […] Wir bleiben nunmehr an unseren Traum gebunden wie an ein verlorenes Objekt, von dem wir Brocken oder Spuren wiedergefunden hätten und das wir nun nicht mehr verlieren möchten.6

Kann das Phänomen der Traumreste in die psychoanalytische Theorie integriert werden? Dass bisher keinerlei Forschung dazu vorliegt, deutet darauf hin, dass sie ein Problem darstellen, das einer Verdrängung unterliegt und dessen Lösung bisher unbewusst vermieden wurde.

Die Tagesreste der Anwälte, Feldherr:innen, Seeleute und Theoretiker:innen sind Trauminhalte, deren behutsame Deutung in der psychoanalytischen Therapie einen Schluss auf die infantilen, verdrängten Wünsche der oder des Träumenden zulassen. Sie sind, wie oben beschrieben, das Vokabular, dessen Anordnung die letztlich undurchschaubare, fluide Grammatik des Unbewussten momentan sichtbar macht. Die Analyse fungiert hier als eine Rationalisierung in Sekundärprozessen, ein prekärer, aber gründlicher und mühsamer Ordnungsversuch, der im Verlauf von vielen Analysestunden in gewissen Grenzen erfolgreich sein kann: Die Zuydersee7 der individuellen Psyche wird vielleicht nie ganz trockengelegt, aber ihre Untiefen, ihre Strömungen und ihre gefahrvollen Winde können im Verlauf einer vielhundertstündigen Psychoanalyse durchaus ausgelotet und kartiert werden.

Wenn aber über die Tagesreste ein – immer tentativ bleibender – Zugriff auf die Funktionsweisen des Unbewussten möglich ist, was wäre dann durch die Analyse der Traumreste möglich? Solnits, Pontalis’ und Lukrez’ Beschreibungen sind knappe Andeutungen, die mit Metaphern der Färbung, der Stimmung, der Intensität und der Spur arbeiten. Das ist nicht viel, kann aber einen Ansatz zum Verständnis der Funktionsweise der Traumreste liefern. Beobachtet man die Traumreste, so fällt auf, dass sie als Emotionen fungieren, die sonst keine Entsprechung im Kanon der wachen Gemütsbewegungen haben: Sie sind nicht als Färbung des Tages durch Angst, Bedrückung, Ekel oder Überdruss zu fassen, sondern stellen eigene Emotionalitäten dar, die mit diesen Grundemotionen verwandt sind, aber ganz anders wirken. Mit den Traumresten setzt sich das nächtliche Traumerleben in den Tag hinein fort; eine dominante, kaum klärbare, eigenständige Empfindungskategorie, die, wie Solnit es beschreibt, nur in seltenen Fällen bewusst wird. Das bedeutet, dass die meisten Traumreste zwar da sind und ihre Wirkung zeitigen, aber unbemerkt bleiben. Das kann beunruhigen: Wenn es stimmt, dass wir jede Nacht träumen, dann bedeutet das, dass unser Tageserleben nicht nur gelegentlich von den Resten dieser Träume eingefärbt ist, sondern dass die Traumempfindungen auf die Wahrnehmungen unseres Wachzustands einen ebenso großen Einfluss haben wie die Tagesreste auf den Traum.

Wenn jeder Traum seinen Tagesrest hat, hat jeder Tag seinen Traumrest. Dann sind alle unsere Tageserlebnisse von den Farben und Spuren des Traumerlebens dominiert, ob wir ihrer nun wie Solnit oder Pontalis bewusst werden – oder wohl eben in den meisten Fällen nicht. Dann steht die Frage im Raum, ob die Analyse nicht immer vor allem eine Fortsetzung des Traumes ist, unsere Realität ist dann nur durch den Traum zu verstehen und sie ist eine Spur je unbewusster Traumfärbung.

Vielleicht hilft es, mit einer Freud’schen Metapher zum Tagesrest zu arbeiten. In der Traumdeutung führt Freud ein überraschendes Gleichnis zum Tagesrest an: Dieser übernehme die Rolle des »Unternehmers für den Traum«, der eine Idee liefere, aber einen Kapitalisten – heute würde man sagen: einen Investor – brauche, der ihm das nötige Kapital zur Verfügung stellt.8 Der Kapitalist ist der unbewusste, instinktgetriebene Wunsch, der die »Produktionsmittel«, die Triebkraft für die Traumproduktion bereitstellt, damit der Traum seine Bilderfolge aus den Ideen und Eindrücken des Tages herstellen kann. Diese kapitalistische Metaphorik – dies zu bemerken ist wichtig – bewegt sich dabei im selben Feld wie Freuds Gleichnis der Trockenlegung der Zuydersee: Die neuzeitlichen Drainagearbeiten in den weitverbreiteten Sumpfgebieten Europas waren die ersten staatlich-kapitalistischen Großprojekte in den Niederlanden, in England oder im preußischen Oderbruch, eine interne Kolonisierung, die oft gegen den Willen der Landbevölkerung geschah.9

Wenn Freuds Metapher vom Unternehmer weitergedacht wird, dann kommt dem Traumrest eine seltsame, renitente Rolle zu: Wenn der Tagesrest der Unternehmer des Traums ist, dann wirkt der Traumrest wie ein Saboteur, der die Wahrnehmungen und bewussten Produktionen und Eindrücke des Tageserlebens verändert und stört. Für einen solchen Akteur, der vom Arbeiter zum störenden Akteur wird, der scheinbar ziellos die Produktion unterbricht, gibt es ein historisches Bild: das vom mythischen Ned Ludd und seinen Nachfolgern, die zu Beginn der industriellen Revolution in England die automatischen Webrahmen zerstörten, an denen sie in den Fabriken der emsigen Unternehmer als geschulte Weber nun mehr und schlechtere Produkte herstellen sollten.10 Die Ludditen sind Nachfolger der sogenannten »Digger«, die nachts die Kanäle zuschaufelten, die tags zur Trockenlegung durch die Feuchtgebiete gezogen wurden. Die Bewegung der Digger und Ludditen sind ein fast vergessener Teil der Arbeiter:innenbewegung, die nicht für bessere Bedingungen innerhalb der kapitalistischen Produktion kämpften, sondern sie und ihre Entwicklung schlicht unterbrechen und sabotieren wollten. Diese renitente, rücksichts- und scheinbar planlose Fraktion der Arbeiter:innen taucht ähnlich geisterhaft in der Analyse des Kapitalismus auf wie der Traumrest in der psychischen Arbeit: Noch der Begiff der »Sabotage« kommt von den »Sabots«, den Holzschuhen, die von den arbeitslos gewordenen und ludditisch inspirierten Erntearbeitern in die neuartigen Erntemaschinen geworfen wurden, um sie zu stoppen und zu zerstören. Freuds Metapher der Analogie von Unternehmerkapitalismus und Traumleben wird nicht überdehnt, wenn sie anhand eines solchen Luddismus in den Tag verlängert wird: Mit derselben Energie, die der Investor in den Traum steckt, geht der von einem psychischen Luddismus inspirierte Traumrest gegen die Produkte des Tages vor: Ein widerständiger, des Nachts ausgebeuteter Arbeiter, der die vernünftige Maschinerie unserer Welterklärungen stört, sabotiert, unterbricht und umfärbt. Er vernichtet die Garantie der erklärenden, analysierenden Denkform, weckt ein seltsames, kaum kontrollierbares Begehren und erschafft eine wunderlich energetische Gestimmtheit. Er zerschlägt die Webrahmen des Wahrnehmungsgeflechts, er stört das Getriebe der Pumpen, mit denen die Zuydersee trockengelegt werden soll, sprengt die Dämme, schüttet die Kanäle zu und bricht Löcher in die Sperrwerke, die das domestizierte Bewusstsein vom Unbewussten trennen. Doch wäre es voreilig, den Traumrest als chaotischen, ziellosen Störer wahrzunehmen, weil eine nähere Analyse der Traumreste ein eindrückliches Muster hervorbringen könnte: »Luddism was the work of skilled men in small workshops«, wie E. P. Thompson, der große britische Arbeitshistoriker schrieb;11 und vielleicht ergäbe eine Untersuchung des Traumrests als psychischem Ludditen ein ähnliches Ergebnis, ein faszinierendes Muster der Färbungen im täglichen Gewebe, das Zugang zu diesem renitenten, aber begabten Teil des »small workshop« der individuellen Psyche ermöglichen könnte. Ob eine solche Forschung zu »Produktion und Sabotage« in unserem psychischen Apparat erfolgreich sein könnte, steht noch aus. Bis dahin steht fest: Nimmt man den Traumrest ernst, muss Freuds Metaphorik der Trockenlegung und der kapitalistischen Produktion durch eine Metaphorik der Sabotage und der Renitenz des Unbewussten ergänzt werden. Ned Ludd geht um – in jedem einzelnen Menschen, an jedem Tag, und seine Fahne weht in den Farben der Traumreste.

Anmerkungen

1

Lukrez (Titus Lucretius Carus), Über die Natur der Dinge, übers. v. Klaus Binder, Köln 2014, Kiepenheuer & Witsch, 161.

2

Ebd.

3

Siehe dazu: Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Über den Traum, in ders., Gesammelte Werke, 17 Bde, London 1940–1952, Imago, II/III, 1942, 560.

4

Lukrez, Natur der Dinge, 161.

5

Rebecca Solnit, A Field Guide to Getting Lost, Edinburgh 2006, Canongate, 13.

6

Jean-Bertrand Pontalis, Das Anziehende am Traum, in ders., Die Macht der Anziehung. Psychoanalyse des Traums, der Übertragung und der Wörter, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a. M. 1992, Fischer, 9–47: 42.

7

Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in ders., Gesammelte Werke, XV, 1940, 86.

8

Freud, Traumdeutung, 566 [Kursivierung im Original gesperrt].

9

Siehe z.B. zur Trockenlegung der britischen Sumpflandschaft der Fens: James Boyce, Imperial Mud: The Fight for the Fens, London 2020, Icon Books.

10

Zum Luddismus als einer fast vergessenen, aber hochbedeutenden Bewegung der historischen – und vielleicht künftigen – Arbeiterklasse, siehe exemplarisch: John Zerzan, A People’s History of Civilization, Port Townsend, WA 2018, Feral House, 178–188.

11

E. P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963, Victor Gollancz, 193.