RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 129135 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.17).
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In Therapien

En thérapies

In Therapies

Iris Junker

Die Autorin beschreibt unterschiedliche therapeutische Erfahrungen, persönlich, poetisch, witzig und melancholisch zugleich. Sie stellt der Einzel-Psychoanalyse einerseits die Verhaltenstherapie, andererseits den Erfahrungsmoment in einer psychoanalytischen Gruppentherapie gegenüber.

L’auteure décrit différentes expériences thérapeutiques, de manière à la fois personnelles, poétiques, drôles et mélancoliques. Elle oppose d’une part la psychanalyse individuelle à la thérapie comportementale, et d’autre part le moment d’expérience dans une thérapie psychanalytique de groupe.

The author describes different therapeutic experiences, and she does this in a personal, poetic, funny and melancholic way. She contrasts individual psychoanalysis with behavioral therapy on the one hand and a lived moment in psychoanalytic group therapy on the other.

Liegen und schauen

In meiner ersten Analyse, bei T., stand die Couch in einer Doppelhaushälfte mit Jugendstilelementen aus den 1920er Jahren in einem fast großbürgerlich eleganten Wohnviertel. Meistens fuhr ich mit dem Fahrrad, manchmal aber, wenn ich spät war, mit dem alten BMW, den meine Mitbewohnerin von ihrem Vater übernommen hatte, zu den Analysestunden. Der BMW machte beim Bremsen so ein kleines metallisches Geräusch wie eine Gitarrensaite, die man spannt, und ich hatte eine leise Unruhe, ob ausgerechnet, wenn ich das Auto fuhr, das fast fadendünne Stahlseil, das ich glaubte zu hören, zerreißen, die Bremsen versagen würden.

Auf T.s Couch lag ich, bewegungslos vor Anspannung und schaute auf die Ornamente an den Glastüren zu einer Loggia, folgte meinen stummen Gedanken- und Gefühlsschleifen. Und schwieg viele Stunden, die meisten ausgiebig. Auch T. schwieg ausführlich. Manchmal bot er mir eine kurze, geheimnisvolle Bemerkung an – Turandot –, die ich nicht annehmen konnte. Es war, als reichte er mir einen Ballon an einer Schnur, die ich durchschnitt, anstatt sie zu nehmen und den Ballon zu halten. Schnipp, sagte T. zu mir. Schnapp, sagte ich zu ihm nicht.

Ich war mehr als nur eingeschnappt. Die Kasse zahlte nicht mehr und von einem Tag auf den anderen hatte ich vier Stunden Analyse pro Woche zu zahlen. Kein Entgegenkommen, keine Alternative, kein Kompromiss. Liegen und Schauen, als gäbe es ganz selbstverständlich nur diese eine Existenz in der exklusiven Realität imaginärer Schleifen, als wäre jene andere Realität der Miete und des Lebensunterhalts bedeutend nur als Analysematerial. Ich fühlte mich ausgeliefert und unterworfen einer unbarmherzigen Formalität, die mich gleichgültig fallen lässt, sobald ich zahlungsunfähig bin. Kein Engagement ohne Gage. Und da ist dann keine Couch, die dich auffängt. Als wäre ganz allein die Analysandin verantwortlich für das Bestehen der analytischen Beziehung. Natürlich hätte mit dieser nicht nur finanziell dramatischen Situation viel gearbeitet werden können. Aber da war mehr formelle Distanz als Mitgefühl. Ich beendete die stahlfadendünne Verbindung abrupt, T. griff dem Reglement entsprechend nicht ein.

Kreise, eingreifen

Beziehungen zwischen Menschen sind ein Hin und Her, ein Austausch, eine Wechselseitigkeit. Enttäuschungen, Distanzierungen, Abbrüche geschehen, die wir nicht verstehen, die wir nicht bestimmen können, denen wir ausgeliefert sind. Die Exklusivität der psychoanalytischen Beziehung lässt, quasi unter Laborbedingungen, die Möglichkeit zu, die eigene Gestaltung dieser Beziehungen so oft und so lange zu wiederholen und zu betrachten, bis ihre Notwendigkeit erkannt und akzeptiert, vielleicht sogar angemessener gestaltet werden kann.

Obwohl von dieser ersten Analyse enttäuscht, nahm ich, aus Neugier und Not, teil an einer Gruppenanalyse an einem Ort am Rand des Toten Gebirges, wo einst Nazi-Raubkunst eingelagert wurde. Eine Fortbildungsveranstaltung, offen auch für Laien, täglich Großgruppe und Kleingruppe.

Wir saßen in Kreisen. In der Großgruppe, wenn man nicht im engsten, innersten Kreis saß, sah man auf Hinterköpfe und Schultern und Stuhllehnen, in der Kleingruppe einander in die Gesichter, aber nicht in die Augen, es war da eine unausgesprochene Verabredung, einander nicht direkt anzuschauen, sondern eher diskret zu betrachten oder aneinander vorbei oder auf Hände, Knie, auf die Körperhaltung zu schauen, und wurde dabei der eigenen Haltung gewahr. Kaum je ein Blick in die Augen, sondern ein verstohlenes, gestohlenes Beäugen. Und auch hier: schweres Schweigen. Hinter dem Fenster Himmel und Landschaft. Das viele Unausgesprochene ermüdete, war manchmal bedrohlich. Eine Frau weinte laut und hemmungslos, immer wieder, Rotz rann in langen Fäden aus ihrer Nase. Die Profis wirkten professionell distanziert. Niemand griff ein. Auch der Gruppenanalytiker nicht. Die psychoanalytische Technik gebot Schweigen, Nichteinmischung und Nichteingreifen. Keine Nachbereitung, keine Aufforderung zu sprechen, zu reflektieren, kein Austausch über das Erlebte. Vielleicht liegt im Schweigen lassen, in der kühlen Distanz und Intellektualität der Psychoanalyse ihr Angebot, vielleicht aber auch ihre Beschränkung. Auf der langen Rückfahrt im Zug war ich so gläsern und dünnhäutig, dass ich hoffte, das Abteil sei eine schützende Samtschatulle. Kostbare, zerbrechliche Gegenstände wurden früher, um sie zu schützen, in Fässern mit Butter transportiert.

Anpassen

Wir sind ja hier eigentlich in einer Werkstatt, sagt er, zeigt auf das Regal, den Schreibtisch, auf dem ein Kasten steht, und zieht energisch mit beiden Händen den Deckel auseinander. Schauen Sie. Ordentlich und akkurat liegen da verschiedene Werkzeuge an ihrem Platz. Ein Schraubendreher, eine Schere, eine Flachzange, eine Feile, ein Inbusschlüssel, ein Hammer, Widerstände. Mhm, murmele ich beeindruckt. Diese Ordnung, dieser Glanz der Instrumente, mich überrieselt eine kleine Hilflosigkeit. Natürlich bekommen Sie eine Einweisung in die verschiedenen Techniken. Ich nicke. Wissen Sie, Sie müssen sich die Verhaltenstherapie vorstellen wie einen Werkzeugkasten, und wir vermitteln Ihnen den Umgang mit den Werkzeugen und die Technik, so dass Sie jederzeit darauf zurückgreifen können. Hier, ich zeige Ihnen mal, was man damit machen kann. Er führt mich zum Regal, darin liegen Objekte in unterschiedlichen Formen und Größen und aus unterschiedlichen Materialien, Holz, Eisen, Papier, Stoff, Plastik. Das sind Modelle von Symptomen, von Störungen, die Sie in Ihrem Alltag, in Ihrer Arbeitsfähigkeit, in Ihrem Wohlbefinden behindern, sagt er. Das kann eine Phobie sein, ein Zwang, eine Essstörung oder eine depressive Verstimmung. Und je nach dem, welche Störung Sie haben, können Sie mit dem geeigneten Werkzeug die Symptome bearbeiten, gestalten, in eine für Sie gut handhabbare Form bringen. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Er nimmt eine formlose Masse aus einem graubraunen, gummiartigen Material aus dem Regal, nicht fest, nicht weich, größer als seine Hand, sie scheint ein gewisses Gewicht zu haben, und hält sie mir hin. Berühren Sie es ruhig, fordert er mich auf. Sehr vorsichtig berühre ich die Oberfläche mit den Fingerspitzen. Sie ist kühl und glatt. Gut, sagt er, und nun nehmen Sie es mal, sagt er und legt mir das Modell in meine widerstrebenden Hände. Ja, nehmen Sie nur. Es ist schwer, viel schwerer als erwartet. So stelle ich mir ein Kunstherz vor, und ich halte es weg vom Körper, weg von meinem eigenen Herzen, als könnte die Kälte da hineinkriechen. Es scheint größer und schwerer zu werden und – es pulsiert!, rufe ich erschrocken. Aber nein, sagt er und nimmt mir die Masse ab und schüttelt beschwichtigend den Kopf, aber nein, sagt er noch einmal. Sie sind aufgeregt, eine kleine Attacke. Er legt die Masse zurück auf seinen Schreibtisch, schaut mir in die Augen und sagt, atmen Sie tief ein und aus, tief ein und aus …

Als ich mich wieder beruhigt habe, erklärt er: Diese Masse wird oft als Modell einer depressiven Verstimmung eingesetzt. Ich nicke. Die Niedergeschlagenheit liegt nun als formlose Masse auf dem Schreibtisch des Verhaltenstherapeuten und sieht aus wie eine in sich zusammengerollte, schlafende Schlange.

Er deutet mit der Hand darauf. Harmlos, sagt er, so können Sie das Symptom, die Störung gestalten, mit dem richtigen Werkzeug, und er nimmt aus dem Werkzeugkasten den Hammer und schlägt auf die schlafende Schlange. Schauen Sie, so können Sie die Form verändern. Schlagen Sie sie flacher. Das können Sie jederzeit wieder machen. Wann immer Sie das brauchen. Wann immer die Masse Ihnen zu groß wird. Sie können auch fester draufschlagen. Selbst wenn das Symptom zurück in seine alte Form findet, wissen Sie ja: Sie haben das richtige Werkzeug, damit es Ihnen nicht über den Kopf wächst. Er lächelt in professioneller Zugewandtheit. Sie schlagen das Symptom flach und können arbeiten, Ihre Kinder versorgen, Ihre Freizeit genießen. Er hebt das Modell noch einmal hoch vor meine Augen. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Sie sehen, es ist einfach nur Material, veränderbares Material. Sie bestimmen die Form. So eine Depression beißt nicht.

Hinlegen und hinschauen

Psychoanalyse ist nicht harmlos. Aber im psychoanalytischen Prozess, im Hinlegen und Wiedererleben und Hinschauen und Durcharbeiten liegt ein verheißungsvolles Angebot, liegt die Möglichkeit, der Selbstentfremdung zu entkommen und heraus in die Ent-Entfremdung zu gelangen.

Ich legte mich dann doch wieder auf die Couch. Die Versicherung im Erstgespräch, dort nicht liegen zu müssen, war ausschlaggebend für meine Entscheidung für W.

Und wieder lag ich die meiste Zeit gerade ausgestreckt, ein Bein über das andere gelegt, die Hände auf dem Bauch, niemals wäre ich auf die Idee gekommen, die Decke, die zusammengefaltet auf der Couch lag, zu nehmen, ich wagte kaum, mich auf die Seite zu legen oder gar mich umzudrehen, und schaute auf die Deckenleuchte. An den Wänden gab es wenig zu sehen, kein Regal mit Büchern oder kleinen Skulpturen und Figuren, kein Bild. Die Fensterbank war aus dunklem Stein, einmal betrachtete ich lange eine Fliege, die auf ihren Flügeln lag, die Beine im Tod zierlich übereinander gelegt. Die Couch stand in einem fast quadratischen, nüchternen Raum mit einer eher niedrigen Decke im ersten Stock eines schmucklosen – allerdings fast großzügig geschnittenen – Reihenhauses aus den 1950er Jahren in einem wiederum großbürgerlich eleganten Wohnviertel mit Blick auf einen kleinen Platz, an dessen Rand ich manchmal saß, wenn ich zu früh war, und schaute auf den Spielplatz, eine vergessene blaue Schaufel im Sand. Seltener schaute ich zum Fenster im ersten Stock hinauf, hinter dem die Couch stand, auf der ich nicht hatte liegen wollen und auf die ich mich gleich legen würde.

Diese Deckenleuchte war ein Kreis, flach, mattweiß, eine Papierscheibe mit einem schmalen, hölzernen Rand, hätte kein Mond, kein Zorn, kein Trotz und Trost sein können. Ich mochte die schüchterne Schlichtheit, aber sie war irgendwie zu – undramatisch. Zu klein für den Raum, sagte ich. Wie müsste sie denn sein, fragte W., meine Psychoanalytikerin. Oval, erklärte ich ihr überzeugt. Und sie muss viel mehr Raum ausfüllen.

Zu meiner Überraschung stimmte W. mir zu.

W. war im Alter meiner Mutter und tatsächlich fühlte ich mich von ihr unaufgeregt und geradezu lässig nachbemuttert. Sie leistete sich, wenn nötig, unkonventionell zu sein. Sie hielt sich durchaus an die Abstinenzregel und ließ viel Schweigen zu, aber es ging keine Strenge von ihr aus, manchmal glaubte ich aus ihrer Stimme hinter mir, ja sogar aus ihrem Atmen, eine Fürsorge um mich herauszuhören.

Vorausschauend und umsichtig leitete sie das Ende der Psychoanalyse ein, nicht nur, weil das Stundenkontingent der Kasse ausgeschöpft war, sondern auch weil sie aufhörte zu arbeiten.

Die Psychoanalyse und ihre spezielle Technik machen ein verheißungsvolles Angebot – im Prozess des Wiederholens, Durcharbeitens, der Selbstreflexion kann eine nachhaltige Ent-Entfremdung entstehen.