RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 161168 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.18).
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Bodenlose Worte

Paroles sans fond

Words Without Ground

Federico Leoni

Der Autor behandelt das Wort der Psychoanalyse als ein Wagnis; er setzt es in enge Verbindung mit dem philosophischen Sprechen, das sich, um philosophisch zu sein, ebenfalls aus den sicheren Verankerungen lösen muss.

L’auteur traite la parole de la psychanalyse comme un pari; il la met en étroite relation avec la parole philosophique qui, pour être philosophique, doit elle aussi se détacher de ses ancrages sécurisants.

The author treats the word of psychoanalysis as a risk; he places it in close connection with philosophical speech, which, in order to be philosophical, must also free itself from its secure anchors.

Das Wort in der Psychoanalyse ist gewagt (azzardato), ganz gleich, ob es vom Analysanten oder vom Analytiker ausgesprochen wird. Es ist das Wort eines Menschen, der spricht, ohne zu wissen, was er sagt, und sich darauf verlässt, dass er es eines Tages wissen wird, vielleicht auch nie. Wenn er es schon wüsste, wäre es ja nicht das Wort des Unbewussten, also kein analytisches Wort, kein Wort, das der analytischen Erfahrung nützt. Auch auf der Seite des Zuhörers, des Analytikers, sind die Dinge schwierig. Auch er oder sie hört ohne Garantie zu, akzeptiert ein Wort, dessen Signifikat, aber nicht dessen Signifikant, bekannt ist.

Die Zeitlichkeit des Wortes ohne Garantie ist diejenige der zweiten Zukunft. Das Wort wird den Sinn gehabt haben, den ein anderes Wort ihm gegeben haben wird. Das Wissen darüber liegt in der Zukunft. Das Wort, das weiß, was es sagt, ist umgekehrt ein Wort, das von einem Wissen spricht, das es besitzt und beherrscht. Letztere sind Partizipien der Vergangenheit. Der Ort dieses Wissens und allen Wissens ist per Definition einer, der zurückliegt: Tempel, Archiv, Bibliothek, Datenbank, Wolke. Aufbewahrungsorte von Wahrheiten, Begriffen, Informationen. Aufbewahrungsorte von Modellen, Gedanken, Affekten. Ein Thesaurus, wie man auch ein Wörterbuch nennt, das heißt eine Sprache, deren Pragmatik vollständig in eine Semantik umgewandelt worden ist.

Wenn die Vergangenheit die Garantie aller Garantien ist, dann liegt etwas Verrücktes in diesem Sprechen und Zuhören ohne Vergangenheit beziehungsweise ohne zu wissen, was gesagt wird und ohne zu verstehen, was zu uns gesagt wird, fremdklingend sogar in unserer eigenen Sprache. Wer spricht oder hört schon gern ohne Absicherungen, wer verlässt schon gern die Zone des Gleichgewichts aus Verstehen und Wissen? Wer hat schon Lust, aus seiner Selbstbezüglichkeit herauszutreten? Ein Hauch von Wahnsinn macht sich sofort bemerkbar, wenn man ein Wort wagt oder empfängt, ohne zu wissen, was dieses Wort bedeutet. Man setzt sich dieser terra incognita aus und zieht sich sofort daraus zurück.

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Hör mal, was du gerade gesagt hast: »terra incognita«. Ist diese Frage nach Land und Boden zufällig? Ist sie unbeabsichtigt aufgetaucht? Ist sie aus der Not heraus entstanden? Was können wir damit machen? Oder sollten wir gar nichts damit machen? Wenn wir etwas damit machen, impliziert dies, sich auf die Suche nach Garantien zu machen? Läuft dies zwangsläufig darauf hinaus, die Frage auf ein bekanntes Wissen zurückzuführen, das Signifikat des Signifikanten auszustellen, das Gehege zu schließen, aus dem wir zu entkommen versuchten?

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Theodor W. Adorno schlägt in einem Aphorismus aus Minima Moralia vor, dass eine Menschheit, die an das Wort eines Menschen glaubt, der auf einer Couch liegt, eine Menschheit ist, die die Niederlage der Philosophie bezeugt. Die Couch, von der er spricht, ist nicht irgendeine Couch, die in irgendeinem bürgerlichen Interieur steht. Es ist der Diwan des Analytikers, und derjenige, der darauf liegt, ist sein Patient. Der Unterschied zwischen dem Wort, das vom Katheder gesprochen wird, und dem Wort, das vom Diwan gesprochen wird, ist in etwa der, der »zwischen [Schellings] Philosophie der Offenbarung und dem Gequatsche der Schwiegermutter« besteht, schlussfolgert Adorno.1 Es gibt etwas Wahres und etwas Falsches an dieser fulminanten Behauptung. Etwas Wahres in dem Sinne, dass die Philosophie schon immer ein waches, festes, klares, kritisches Wort anstrebte und keinesfalls ein vages, träumerisches, in Dunkelheit gehülltes. Aber es gibt auch etwas Falsches oder zumindest Zweifelhaftes daran, denn wer kann sagen, dass der Traum nicht ein Wort verbirgt, das präziser ist als das des Wachseins, wacher als das des Gewissens, kritischer als das, das jeden Morgen von dem »Ich« ausgesprochen wird, mit dem wir uns zu identifizieren glauben? Adornos Verweis auf die Philosophie der Offenbarung ist zudem mehrdeutig und eröffnet nuanciertere Lesarten. Das »hohe Beispiel«, gegen das Adorno das »niedrige« psychoanalytische Gequatsche absetzt, ist nun ausgerechnet ein Beispiel, in dem sich die Philosophie in ihrer eigenen träumerischen Weise zeigt. Ist nicht gerade dieses Wort, wacher als das wache Wort des Ichs, eben das Markenzeichen der Philosophie? Deren Rede beginnt ja dort, wo die Rede desjenigen, der mit festen Füßen auf dem Boden steht, endet; die Rede desjenigen endet, der aus einer gewissen Verwurzelung heraus spricht, sich der Tradition bedient, als Stütze aller Stützen: die Erde als das Archiv aller Archive, als das Transzendentale aller Transzendentalen.

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Philosophie beginnt damit, dass die Worte zweier »extravaganter Griechen«, wie Edmund Husserl sie nannte, den Boden in Frage stellen, auf dem das Wort spontan zu gedeihen schien.2 Die Philosophie beginnt, wenn die natürliche Kontinuität zwischen einer bestimmten Wurzel und einem bestimmten Wort in Frage gestellt wird, und sie sprießt daraus wie eine zuverlässige Frucht. »Extravagant«, sagt Husserl. Er meint Nomaden und zugleich Verrückte, die dazu bestimmt sind, wurzel- und sinnlos umherzuziehen. Diese Griechen sind Narren, Nomaden, zumindest in den Augen derer, die Platon mit einiger Verachtung »Kinder der Erde« nannte in Abgrenzung zu den Philosophen als »Freunde der Ideen«. Letztere haben eher eine unsichere als eine sichere Zugehörigkeit, die sie eher in einem beweglichen als in einem unbeweglichen Element verortet. Aus der Perspektive der »Kinder der Erde« deliriert also auch die philosophische Rede, und zwar nicht weniger als diejenige, die eines Tages vom Diwan aus gesprochen werden wird und die den Antipsychoanalytiker Adorno so ärgerte. Sogar Platon, vor allem Platon, bemerkt, dass die Philosophie die letzten Dinge, von denen sie spricht, »wie im Traum« sieht, eben weil die Rede am Tag, im Wachzustand, dem philosophischen Gegenstand nicht angemessen ist. Zum Beispiel dem Objekt aller Objekte, das im Timaios »chora« genannt wird. Die Philosophie spricht, indem sie ihre Augen schließt und die Verankerungen löst, die sie an den Boden und dessen Wahrheit binden.

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Freud hätte diese Gegenüberstellung von Philosophie und Psychoanalyse wahrscheinlich nicht gutgeheißen. Gegen Ende des zweiten Kapitels von Totem und Tabu deutet er an, dass die Paranoia eine Karikatur der Philosophie sei, was meint, dass es in der Philosophie einen Zug der Paranoia gibt, der jedoch eingedämmt ist, und zwar eingedämmt, weil er methodisch abgesichert wird und nicht zufällig und dilettantisch daherkommt, wie es bei dem zufälligen und dilettantischen Philosophen der Fall ist, welcher der Paranoiker ist. Die Psychoanalyse würde eine genau entgegengesetzte Bewegung vollziehen. Sie würde die paranoide Versuchung ablegen, den bequemen Traum der Beherrschung aufgeben und die Ungewissheit der Bedeutungen ertragen. Freuds Verdacht ist seltsam. Die Linguistik würde seine Denkbewegung unter die »performativen Widersprüche« einordnen. Denn man muss schon alles wissen, um sagen zu können, dass die einen glauben, alles zu wissen, die anderen wissen, dass sie nicht alles wissen, und dass diejenigen, die wissen, dass sie nicht alles wissen, alles über diejenigen wissen, die glauben, alles zu wissen, und über diejenigen, die wissen, dass sie nicht alles wissen. Es bedarf schon einer großen Paranoia, um zu sagen, dass ein bestimmtes Wissen von einer Paranoia betroffen ist, die dann klein, mild und erträglich erscheint.

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Hör mal, was du da gerade gesagt hast. Bedarf es auch einer großen Paranoia, um Freud zu widersprechen, um zu sagen, dass seine Aussage ein performativer Widerspruch ist? Würden wir alles, wirklich alles wissen, sowohl von denen, die meinen, alles zu wissen, als auch von denen, die einen Teil davon kennen, würden wir also den Teil, das Ganze und mehr als die Summe des Ganzen und seiner Teile kennen? Fallen wir von einer Paranoia in die nächste, während wir ständig Gefahr laufen, das instabile Element, aus dem wir unser Wort »ohne Gewähr« erklingen lassen, in so etwas wie eine neue Erde zu verwandeln? Dass also die Gefahr besteht, dass das Wort, das sich als eines »ohne Gewähr« erklärt – wo immer es erklingt, im Patienten wie im Analytiker, im Bereich der Psychoanalyse wie im Bereich der Philosophie, im Bereich einer Philosophie, die hofft, sich von der Psychoanalyse kontaminieren zu lassen, wie im Bereich einer Psychoanalyse, die sich ihres alten Kampfes mit der Philosophie entledigt – allzu schnell, allzu leicht, aufgrund seiner eigenen vermeintlichen Nacktheit selbstgefällig wird?

Es ist ja bekannt, dass die Vorstellung von Nacktheit das Kleid der Nudisten ist, mit dem sie sich bedecken. Und sie wirken weit weniger sexy als jemand, der im Winter in einen Astrachan-Pelz eingemummelt herumläuft.

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Und so drängt sich der Verdacht auf, dass nur eine Menschheit, die sich von der Erde verabschiedet hat, auf ein Wort setzen kann, das nicht verbürgt, d.h. weder in einem bereits bekannten Wissen verwurzelt ist noch eine Vergangenheit als festen Boden von Gewissheiten überliefert. Es gibt mehr als eine Verbindung zwischen der Geburt der Philosophie und dem maritimen Abenteuer der Griechen, zwischen dem Abschied von der Landwirtschaft und dem Ausstieg aus dem Mythos. Es gibt auch mehr als eine Verbindung zwischen der Explosion des Seehandels im 17. Jahrhundert und der Logik der wissenschaftlichen Revolution. Die Wissenschaften setzten auf die Möglichkeit, Daten zu sammeln, indem sie Experimente »ohne Hypothesen« durchführten, wie Newton es ausdrückte. Das heißt, ohne im Voraus zu wissen, was diese Daten uns sagen werden, ohne zu wissen, worüber diese Daten uns etwas sagen werden, und vielleicht ohne dass es ein endgültiges Objekt gibt, für das diese Daten das Zeichen oder der Hinweis sind. Die Wahrheit liegt in der Zukunft, sie ist ein Glücksspiel, sie spricht nicht von einem bereits Gegebenen, an das man sich anpassen müsste, sondern konstruiert etwas, das eines Tages Wert haben wird, eben als bereits Gegebenes. Ein bisschen wie die Kaufleute des 17. und 18. Jahrhunderts, die darauf wetteten, dass man auf der anderen Seite des Meeres mehr Geld verdienen kann als im Mutterland, dass der Reichtum dadurch entsteht, dass man das, was man hier und jetzt schon besitzt, an einen anderen Ort und in eine Zukunft verlegt, und dass es, kurz gesagt, nicht darum geht, zu besitzen, sondern zu investieren, nicht darum, zu beherrschen, sondern zu wetten.

Wenn wir noch einen Schritt weiter gehen, sehen wir, dass es einen gewissen Zusammenhang zwischen der Geburt der Psychoanalyse und der Erfindung des Radios gibt. Beide markieren zufällig den Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Radio projiziert die bereits im Gange befindliche Entwurzelung eines Teils der Menschheit sogar über die Instabilität des Wasserelements hinaus in die äußerste Unbeständigkeit des ätherischen Elements und setzt das Wort der Wette aus, dass es, diesseits des Ozeans ausgesprochen, auf der anderen Seite des Ozeans gehört und beantwortet wird.3

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Plötzlich erkennen wir eine seltsame Verbindung zwischen dem Wort ohne Gewähr und dem Schicksal des Westens. Es ist eine Verbindung, die von Ferne kommt und nahe rückt. Sie geht von den philosophischen Anfängen aus und kommt bei den gegenwärtigen neoliberalen Katastrophen ebenso an wie bei den besten philosophischen oder psychoanalytischen Hoffnungen. Wie jede Genealogie, die wir plötzlich als unsere eigene entdecken, erscheint uns auch diese so zweifelhaft wie eh und je … Wenn überhaupt scheint sie nicht von uns, sondern von jemand anderem zu sprechen. Sie überzeugt uns nur insofern, als nicht wir dieser andere sind, der wir vor allem nicht sein wollen. Trotz alledem.

Aus dem Italienischen übersetzt von Judith Kasper

Anmerkungen

1

Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, Suhrkamp, IV: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], 77 (Nr. 42 »Gedankenfreiheit«).

2

Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, in ders., Husserliana, Den Haag 1950–1968, Nihoff, Kluwer, Springer, VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. v. Walter Biemel, Den Haag 1954, Nijhoff, 314–348: 336.

3

Zum Zusammenhang von Wissenschaft und Handel der frühen Neuzeit siehe Carlo Sini, La libertà, la finanza, la comunicazione, Milano, Spirali 2001; zu Kapitalismus und Logik des Wagnisses, Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2005, Suhrkamp; zu Psychoanalyse und Medientheorie, Friedrich A. Kittler, Grammophone, Film, Typewriter, Berlin 1986, Brinkmann & Bose.