RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 182188 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.20).
Ⓒ Die Urheberrechte liegen bei den Autor*innen. Alle Inhalte, ausgenommen Bilder oder sofern anderweitig angegeben, stehen unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.

Memento

Memento

Memento

Claire Nioche

Die Autorin berichtet von ihrer psychoanalytischen Arbeit in Paris, vom Einbruch der Realität des Kriegs in die Phantasien ihrer Analysanten. Sich auf Lacan beziehend, stellt sie ethische Überlegungen zum "Gut-Sagen" vor.

The author reports on her psychoanalytic work in Paris, on the intrusion of the reality of war into the fantasies of her analysands. With reference to Lacan, she presents ethical considerations on "Good speaking".

L’auteure évoque son travail psychanalytique à Paris, l’irruption de la réalité de la guerre dans les fantasmes de ses analysants. En se référant à Lacan, elle présente des réflexions éthiques sur le "Bien dire".

Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs.

Paul Celan, Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen

Etwas zur 100. Ausgabe des RISS beizutragen, ist sowohl eine Einladung als auch ein Moment, Danke zu sagen: ich danke all jenen, die Ausgabe für Ausgabe ihre Intelligenz und ihre Kunst des Kontrapunktierens eingebracht haben. Am 100. wird erinnert und zugleich austariert, was in der Zwischenzeit stattgefunden hat. Man ist geneigt, Bilanz zu ziehen. Ein solcher Gelegenheitstext sollte sich seiner Umstände, seiner Bedingungen und seines Datums bewusst sein – denn wir wissen, dass Zeitpunkte zählen.

Für diese besondere Ausgabe werde ich versuchen auszudrücken, wohin ich mich derzeit wage und warum.

Der Rahmen: Einen Teil der Woche arbeite ich in einer Einrichtung im Herzen von Paris, die kostenfreie psychoanalytische Behandlungen anbietet. Manche Patient*innen kommen seit einigen Jahren, andere, junge Leute, haben gerade erst angefangen. Alle haben auf je ihre Weise Prekarität erfahren.

Herbst 2023: Die Schatten in meiner Praxis hören nicht auf sich auszubreiten, die Finsternis bildet dunkle Klumpen auf der Couch. Weltschmerz und -lärm hallen nach. Der Ukrainekrieg, der Tod von Nahel in Nanterre diesen Sommer, der von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen wurde, und der Flächenbrand, der dadurch ausgelöst wurde. Die Männer und Frauen, die bei ihrer Überfahrt, ihrer Flucht auf dem Meer nach Europa im Stich gelassen und niemals die Küsten erreichen werden. Der Terror der Hamas, die Bombardierung des Gazastreifens. Die Stimmen erhärten oder brechen. Der psychoanalytische Schauplatz wird, widerstrebend, auch in politische Angelegenheiten, in die Katastrophen dieser Welt, hineingezogen. In der Kur sprengen Kriege und zunehmender Dissens immer häufiger den Redefluss. Das Gift finsterer Gefühle und Gedanken breitet sich aus. Man erstickt, riskiert die (eigene) Vergiftung.

David Hume hat uns vorgewarnt: »Die Bestrafung eines Widersachers ist gut, da sie das Bedürfnis nach Rache befriedigt; die Krankheit eines Gefährten ist schlecht, da sie dem Gefühl der Freundschaft entgegenwirkt.«1 Ein verworrenes Zusammenspiel von Identifikationen, Sympathien und Empathie. Natürlich sind wir nicht mehr rational. Bei einer Patientin wird das Sprechen zur Rachsucht, die Wahrheit zementiert, errichtet und verbarrikadiert sich. Es gibt nur noch ein Motiv, nur einen Grund: zerstören, vernichten, endgültig rächen, »wie hoch auch immer der Preis an zivilen Opfern wäre«. Wie oft werde ich mir stumm ihre mörderischen Ausbrüche anhören...? Bei anderen Patient*innen streifen die Phantasmen gefährlich die Schwelle zur Tat (passage à l’acte). Sollte ich nicht eingreifen? Und bei wieder anderen geben Zweifel, das Zögern, Fragen angesichts vermauerter Diskurse, der bizarren persönlichen Verschwörungserzählungen, die von Weltuntergangsvisionen heimgesucht werden, einen Raum frei.

Was soll man entsprechend der Lacan’schen »Ethik des Gut-Sagens« (éthique du Bien dire) angesichts dieser Kriegszustände und gesellschaftlichen Zerwürfnisse antworten? Wie kann man auch die politische Dimension offen lassen, die sich unweigerlich in jede Kur einschleicht? Politisch bedeutet hier weder die Philosophie, an ein »gutes Regieren« (Bon gouvernement) zu glauben, noch an die Idealisierung einer kleinen Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich jedem Konflikt und jeder Form von Gewalt schützend entzieht. Politisch meint vielmehr die Verquickung unserer staatlichen Einbettung, unserer anarchistischen Triebe, unserer Widerstandsregungen und allem Gewöhnlichen und Alltäglichen, das aus den (sichtbaren und unsichtbaren) Machtverhältnissen hervorgeht. Politisch ist auch alles, was uns frei und verantwortlich in unserem Bezug zum Anderen lässt. Wie kann man heute die analytische Begegnung hier einbringen und zugleich widerstandsfähig machen?

Lacan, 1973, L’étourdit: »Dass man sagt, bleibt vergessen hinter dem, was gesagt wird in dem, was gehört wird.«2 Ich sage mir: Um uns in die Zone der subjektiven Zerbrechlichkeit hinein zu wagen, müssen wir heute mehr denn je diese strukturelle Tatsache im Kopf behalten und immer wieder zum gespaltenen Subjekt zurückkehren. Und genau diese Spaltung des Subjekts – zu zweit, in der subjektiven Unterschiedlichkeit der Übertragung – aushalten. Unter dieser Bedingung kann vielleicht eine Ethik des Gut-Hörens (éthique du Bien entendre) einen Kontrapunkt zur Ethik des Gut-Sagens bilden.

In einem Seminar Anfang der 2000er Jahre an der Universität Paris 83 lehrte uns François Regnault, dass es darum geht: der flüchtigen Natur des Unbewussten Gehör zu schenken, die sich auftut und genauso schnell wieder verschließt. Diese Spaltung (refente), die, wie Lacan sagt, der manifeste Inhalt dessen, was man sagt, stur und systematisch zu überdecken sucht. Das Unbewusste, diese »Kluft«, ist dazu bestimmt, »sich zu schließen [...], sich entziehen, sich davonmachen zu müssen«,4 und die Subjektspaltung ist für die Analytiker*in nur ein erfahrbares kleines empirisches Etwas, das am Rand eines Lapsus oder einer Fehlleistung erhascht wird. Hier setzt der/die Analytiker*in seine/ihre Methode und Praxis aufs Spiel. Es ist dieses Risiko, das sie oder er eingeht und die Analysand*in eingehen lässt. Und man wird sich im Zwischenraum des Auftauchens dieses Subjekts da, während der ganzen Zeit, in der das Ich laut spricht, gegenseitig stützen müssen.

Lacan hat mit der cartesianischen Formel des cogito ergo sum (»Ich denke, also bin ich«) seinen Spaß getrieben. Über einen genialen Kurzschluss der Philosophie leitet er aus dieser Formel die logische Struktur des Subjekts des Unbewussten ab: ein gespaltenes, punktuelles, schwindendes Subjekt.

In diesen Tagen, die derart von vom Terror verursachter Verwirrung und Aufregung gezeichnet sind, ist der Hass zur gängigen Diskursform geworden. Er hat völlig die Möglichkeit des Sprechens überdeckt. In diesen Tagen klammere ich mich an diese subjektive, strukturelle Tatsache. Ich spiele noch einmal den Film der fulminanten Diagonale innerlich ab, die Lacan von Freud zu Descartes zieht. Descartes und Freud sprechen beide davon, dass – irgendwo – Es denkt. Naja, also manchmal denkt es und, schwupp, schließt es sich wieder. Denken ist nichts Gesichertes, zunächst, weil wir es mit einem Akt und nicht mit einer festen Substanz zu tun haben. Dass Es denkt, rührt bei Descartes an den Akt, Zweifel zu äußern (die Aussage »ich zweifle« verrät, als Aussage, dass es hier wirklich Gedachtes gibt). Man kann ihn paraphrasieren und sagen: »Ich bin sicher zu denken, weil ich zweifle« oder »Als Denken bin ich [De penser, je suis].«5 Für Freud gibt es im Traum Gedanken*, die außerhalb des Bereichs bewusster Gedanken liegen. Dort wo Es träumt, sind wir sicher, dass es Gedanken gibt, die unbewusst sind, anders gesagt, die sich (dem Bewusstsein) als abwesend zeigen. »Hier, auf dem Feld des Traums, bist du bei dir. Wo Es war, soll Ich werden«,6 hier denkt etwas von dir und denkt sich, ohne (es) zu wissen.

Zu träumen wie man zweifelt, zweifeln wie man träumt – das ist Denken. In einem Akt des Aussagens lässt sich die Subjektspaltung und, wenn man Acht gibt, lassen sich Gedankenspuren ablesen. Die Gedanken* manifestieren sich schon, bevor das Subjekt gewiss ist. Darüber hinaus ist die cartesianische Gewissheit, in ihrem Extrem, nichts Andauerndes. Sie ist ein ausgesetzter Moment, der verfliegt und verschwindet. Sie besteht nur solange, wie man sie ausspricht. In diesen Zeiten kann man kaum mehr allzu feste Gewissheiten haben. Ich klammere mich an ein paar Bojen.

Sich in der Sitzung an diese subjektive, strukturelle Tatsache erinnern: das Gehör immer dem Kleinen, nicht vorherrschenden Sprechen leihen, eine simple Ohnmacht, ein »absoluter Punkt des Nicht-Wissens zu sein, ein privilegierter Punkt, nur Subjekt des Begehrens zu sein«.7 Das ist eine Vorbedingung für unsere psychoanalytische Tätigkeit und Vermittlung, für die Art und Weise, wie wir unser Sprachgitter in der Übertragung anordnen. Die Subjektspaltung zu praktizieren, heißt, sich daran zu erinnern, d, dass ein Aussagen sich (als Aussagen) verrät, dass man sich von dem einzigen Register der Aussage, die sich selbst entäußert, lossagen muss - aber dass man dadurch keine Wahrheit gewinnt, sondern nur die Ahnung, dass einem etwas entglitten ist. Offen gesagt, das ist nicht gerade angenehm.

Und es gibt die geniale Entdeckung, dass:

Ich zum Sein kommen [kann], indem ich aus meiner Aussage verschwinde.8

... Strukturell, ja, aber das ist ein methodischer Punkt. Empirisch betrachtet, kann man das Gesagte jedoch nie ganz auslöschen.

Sich also, gleichzeitig und widersprüchlicherweise, an eine andere Sache erinnern: Es handelt sich nicht nur um etwas Strukturelles, sondern auch um etwas Empirisches, Faktisches. Das Subjekt des Unbewussten ist gespalten, doch was uns betrifft, die wir sprechen und zuhören, sind wir auch situierte Subjekte. Paul Celan sagt es wie kein anderer: Wir müssen derjenige sein, »der nicht vergißt, daß er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht«.9 Die situierte Eigenheit des Analytikers zu akzeptieren, heißt, den Analysant*innen zuhören zu wollen, ohne der eigenen sozialen Situation (Geschlecht, Klasse, Kultur, Herkunft) zu entbinden. Das gilt natürlich auch auf theoretischer Ebene: die eigene Situiertheit anzuerkennen, bedeutet, sich dazu zu verpflichten, an Voraussetzungen zu denken, die man sich selbst selten klar macht.

Heute im Raum der Analyse ein gespaltenes Subjekt zu denken, das auch situiert ist – das ist meinem Empfinden nach die Möglichkeit, ein freies Sprechen und damit einen offenen Raum der Begegnung aufrechtzuerhalten. Ich sage mir, dass man in diesen finsteren Zeiten ein Sprachgitter suchen und sich in der Kur diesen beiden Gestirnen anvertrauen könnte, die Celans Poetik erleuchten: Die Gegen-rede und die Herstellung einer Verbindung. Letzteres geschieht auch durch die Anwesenheit der bzw. des Analytiker*in, eine körperliche Anwesenheit ohne Worte. Da sein, mit dem/der Anderen da sein, den eigenen Körper dem/der Anderen leihen, den eigenen psychischen Apparat leihen, die »Fähigkeit zu träumen« (W. R. Bion) verstärken oder gar – wieso nicht? – aufpfropfen, um die psychischen Verbindungen zu hegen und so hoffentlich den Sprechraum offenzuhalten. Ein Raum, der der Struktur des Subjekts des Unbewussten entspricht, aber ohne Missachtung der Menschen, die wir auch sind. Es gibt dafür keine Gewähr, aber es lässt sich versuchen oder träumen.

Aus dem Französischen übersetzt von Larissa Krampert

Anmerkungen

1

David Hume, A Dissertation on the Passions. Eine Dissertation über die Affekte, Englisch/Deutsch, übers. v. Frank Brosow, Stuttgart 2016, Reclam, 7.

2

Jacques Lacan, L’étourdit – Der Betäubte oder Die Umläufe des Gesagten, übers. v. Max Kleiner, 28.11.2020 <https://lacan-entziffern.de/letourdit/jacques-lacan-letourdit-teil-i-uebersetzt-von-max-kleiner/> [letzter Aufruf am 22.12.2023]

3

Dieses Seminar ist leider nicht veröffentlicht worden.

4

Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI, hg. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Weinheim 1987, Quadriga, 49.

5

Lacan, Vier Grundbegriffe, 42.

6

Ebd., 50.

7

Jacques Lacan, Discours philosophique et discours analytique, in Scilicet, 6/7 (1976), 257–294 (287) [Zitat übers. v. Larissa Krampert].

8

Jacques Lacan, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten, übers. v. Chantal Creusot u. Norbert Haas, in Lacan, Schriften II, Weinheim 1991, Quadriga, 165–204 (176).

9

Paul Celan, Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, in ders., Der Meridian und andere Prosa, Frankfurt am Main 1982, Suhrkamp, 40–62 (55).