Vorab ein paar Worte über den Titel, um meinen Beitrag einzuführen. Der Titel ist ein Lapsus: statt Ohne Gewähr, wie diese Ausgabe der Zeitschrift RISS überschrieben ist, habe ich »ohne Gefahr« gelesen und den Umlaut elidiert. Mein kindliches Deutsch wollte vermutlich etwas sagen. Ich habe die deutsche Grundschule, das Istituto Giulia in der Via Boscovich in Mailand, besucht. Gewiss beweist der Lapsus, dass ich nicht der beste Schüler der lieben Schwester Marie Benediktine gewesen bin. Ich werde versuchen, meinen Lapsus denjenigen zu erklären, die nicht an das Unbewusste glauben.
Im Laufe der vierzig Jahre meiner analytischen Arbeit hat sich mein Freudismus etwas beschlagen; ich gebe frei heraus zu, dass ich ein immer weniger orthodoxer Freudianer geworden bin. Ich glaube nicht mehr an die freudsche Metapsychologie, die auf Antrieben und Trieben basiert; ich betrachte sie als ein aristotelisches Artefakt, das auf der Annahme beruht, dass psychische Gründe als konstante Kräfte aufgefasst werden. In der Biologie gibt es keine konstanten Kräfte, noch weniger gibt es sie in der Psychologie, sondern es gibt nur variable, präziser: oszillierende Kräfte.
Nebenbei: Aristoteles hat die Pendelbewegung in seiner Physik nicht behandelt. (Seine Tochter schaukelte nicht). In dieser Hinsicht folgt Freud Aristoteles blindlings; er beschäftigt sich nicht mit den Schwingungen des Pendels, die hingegen den Angelpunkt in Galileis Mechanik bilden.
Kein Wissenschaftler bezieht sich heutzutage, um Modelle von physischen Phänomenen zu erstellen, auf das principium rationis sufficientis, dieses kindliche Prinzip, das jedem Effekt die Vorhandenheit einer Ursache unterstellt, welche auf magische Art und Weise den Effekt rechtfertigt. 1921 warnte Wittgenstein: »Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.«1 In der dritten Abhandlung von Der Mann Moses und die monotheistische Religion gesteht Freud, er sei von einem »gebieterischen Kausalbedürfnis« beherrscht. Es geht um den typischen Infantilismus des Kindes, das »Warum?« fragt und durch die ideologische Antwort des Erwachsenen entfremdet wird.
Im Laufe der vierzig Jahre hat sich meine Position innerhalb der Psychoanalyse präzisiert und zugespitzt. Ich lehne, wie gesagt, die Metapsychologie ab, die ich mit ihren Männchen im Innern des Menschen als allzu anthropomorphisch empfinde; aber ich behalte, ja unterstreiche die drei existentiellen Axiome von Freud: die Existenz des Unbewussten, nämlich die Existenz eines Wissens, das sich nicht weiß; die Existenz der Urverdrängung, nämlich eines Wissens, das nie bewusst wird; und die Existenz der Nachträglichkeit, nämlich eines Wissens, das immer zu spät, zu einem späteren Zeitpunkt, zum Wissen gelangt. Man könnte, da ich immer noch ein bisschen Lacanianer bleibe, als viertes das epistemische Axiom hinzufügen: das sujet supposé savoir ist der Motor der Übertragung. In der Hoffnung, mich klar über meinen unorthodoxen Freudismus ausgedrückt zu haben, fahre ich jetzt fort.
1909 sprach Freud, als er aus dem Schiff stieg, das ihn als Gast der Clark University nach Amerika brachte, den verhängnisvollen Satz aus: »Sie wissen nicht, dass wir ihnen die Pest bringen.« Dass die Psychoanalyse gefährlicher als die Pest ist, dem stimme ich nicht zu. Die Tatsachen beweisen genau das Gegenteil. Die Psychoanalyse wurde banalisiert und harmlos gemacht, sie wurde zu einer der vielen Psychotherapieformen, die den Planeten im Dienst des Status quo und des herrschenden Gemeinsinns heimsuchen. Es gibt also nichts Gefährliches mehr in deiner Psychoanalyse, lieber Freud. Genau das will mein Lapsus dich sagen lassen.
Jedoch glaube ich einen Weg zu kennen, um die Psychoanalyse wieder gefährlich werden zu lassen, so wie sie sich Freud wünschte. Dieser Weg ist aber nicht mehr ein freudianischer, sondern ein galileischer. Freud kannte Galilei nicht. Auf den 7000 Seiten seiner Gesammelten Werke wird er nicht erwähnt. Freud zitiert nicht einmal die geläufigen Termini der galileischen Wissenschaft, wie etwa »Variabilität«, »Interaktion« oder »Schwingung«. Um die Gefährlichkeit der Psychoanalyse zurück zu gewinnen, so meine Hypothese, muss man sich Galilei zuwenden, seinen »sinnvollen Erfahrungen und notwendigen Beweisen«, wie er 1615 an Cristina di Lorena schrieb. Die Psychoanalyse wird für das herkömmliche Denken wieder zu einer Gefahr, wenn sie wieder wissenschaftlich wird, wie sie es in ihren Anfängen war, zur Zeit des Entwurfs einer Psychologie (1895), den Freud unerklärlicherweise verwarf.
Gewiss, wir leben nicht mehr in den Zeiten, in denen Galilei der Prozess gemacht wurde (1633), aber noch immer bleibt Galileis Wissenschaft unbeliebt. Das Volk ist vorwissenschaftlich (und wird es auch bleiben). Es will unwissend bleiben. Es wettet weiterhin auf die Lottozahlen, die sich nicht zum rechten Zeitpunkt einstellen. Es verfügt über keinen modernen Begriff der Wahrscheinlichkeit. Das Volk glaubt noch, dass Fortuna, die Göttin mit den verbundenen Augen, existiert. Nicht nur das. Wenn man eine Feltrinelli-Buchhandlung betritt, wird man von einer Flut neuer Romane begrüßt. Die wissenschaftlichen Publikationen finden sich derzeit verbannt in ein Regal im ersten Stock. Die Romanliteratur schlägt die wissenschaftliche Literatur sechs zu null, ein Golden Set im Tennis.
Doch Wissenschaft und Roman sind Geschwister. Sie sind beide zusammen in der Renaissance zur Blüte gelangt, in Folge entwickelte und etablierte sich die Romanliteratur stärker als die wissenschaftliche Literatur. Der Roman hat für sich das Thema des Lebens in Anspruch genommen und der Wissenschaft die Materie überlassen. Die Psychoanalyse, die sowohl mit der fiktiven als auch mit der philosophischen Literatur verwandt ist, lebte in den Lehren der großen Lehrer des Lebens fort: Klein, Winnicott, Lacan. Aber sie stirbt in den entsprechenden Schulen. Die Scholastik ist Feind des Wissens, weil sie sich nicht weiterentwickelt.
Ich frage mich aber: Hat Lacan nicht vom Subjekt der Wissenschaft gesprochen, das auch das Subjekt der Psychoanalyse wäre? Diesbezüglich ist Lacans Botschaft nicht ohne Ambiguität gewesen, aber sie kann erklärt werden, und zwar ausgehend von Descartes, einem Autor, den Lacan in jedem seiner Seminare erwähnt. Ist es gefährlich zu sagen, dass das Subjekt der Psychoanalyse das cartesianische Subjekt ist, »das denkt«? Ja, Denken ist gefährlich, das wissen die, die an der Macht sind, heute in Europa in der Regel die Rechten, nur zu gut. Noch gefährlicher ist das Denken außerhalb des bewussten Denkens; die Gefahr ist das vor-ontische Denken, sagte Lacan. Aber es muss gedacht werden. Es muss wieder außerhalb der scholastischen Schemata gedacht werden, im Fall der Psychoanalyse außerhalb der schematischen metapsychologischen Triebtheorie, die in die Psychoanalyse einen falschen Determinismus einführt und die Wahrscheinlichkeitstheorie missachtet.
Freud verwendet »Wahrscheinlichkeit« nur im Sinn der »Wahrscheinlichkeit« einer Hypothese (likelihood) nie im Sinne der »Wahrscheinlichkeit« eines ungewissen Ereignisses (chance). Ödipus ist gewissermaßen das Ereignis überhaupt. Er verkörpert den freudschen vorwissenschaftlichen Determinismus, der die Erfindung des probabilistischen Diskurses durch Pascal und Fermat (1654) ignoriert. Ich rufe en passant den probabilistischen Aufsatz von Galilei »Über die Entdeckung der Würfel« (1612–23) in Erinnerung, in dem er den modernen Begriff des Wahrscheinlichkeitsraums als Produkt vorausgegangener Ergebnismengen antizipierte. Er habe erklärt, warum es mit drei Würfeln einfacher ist, zehn als neun zu werfen, selbst wenn die entsprechenden Zahlensummen gleich sind. Diesen Aufsatz sollte man wieder lesen!
Ein guter Ansatzpunkt scheint mir der zu sein, den RISS mit diesem Heft vorschlägt, das den Titel Ohne Gewähr trägt. Die Psychoanalyse bietet keinem Mächtigen eine Garantie. Die Psychoanalyse rechtfertigt nicht diejenigen, die an der Macht sind. Freud hatte das geahnt, jedoch setzte er diese Ahnung schlecht um, als er behauptete, dass die Psychoanalyse nicht an den Universitäten gelehrt werden sollte. Das Resultat ist, dass die Psychoanalyse in ihrer Nische isoliert geblieben ist, ja dass sie sich in ihren Nischen zersplittert. Ohne lebendigen Austausch mit der gegenwärtigen Kultur droht sie zu verkümmern. Noch heute spricht man alltäglich von Verdrängung und vom Freudschen Versprecher. Wie kann man nur?
Mein kulturelles Programm äfft dasjenige von Lacan nach. Nicht mehr und nicht nur zurück zu Freud, weil man vorher zurück zu Galilei muss, zu seinen Inertialbewegungen ohne Ursache, offen auf das Unendliche. Das Unendliche ist der indiskrete Gast in jeder kulturellen Runde, die sich der Wissenschaft öffnet.
Galilei deutete dies flüchtig in seinem letzten Werk an, welches er aus dem Exil in Arcetri, zu dem die Inquisition ihn verurteilte, verfasste: Unterredung und mathematische Demonstration über zwei neue Wissenszweige die Mechanik und die Fallgesetze betreffend (1638). Das Unendliche aber ist ein anderes Thema, dem der RISS vielleicht ein künftiges Heft widmen wird. Ich würde gerne dazu beitragen, falls ich dann noch auf der Erde rumlaufe.
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An diesem Punkt wird meine Rede politisch, wie es der Titel des Hefts fordert. Ich selbst bin überrascht, es ist aber doch die Wahrheit meines Lapsus. »Ohne Gewähr« könnte das Motto einer neuen Politik der Psychoanalyse sein, abgekoppelt von den unbedeutenden und opportunistischen Politiken der einzelnen psychoanalytischen Schulen, die um ihr Überleben kämpfen, heute und vielleicht noch morgen, indem sie ihre Dienste der Macht anbieten. Es gibt keine Gefahr: Psychoanalyse wird gemacht und basta, sie wird von keiner übergeordneten Autorität gewährt. Wenn das gelingt, gut, andernfalls sollte man es nochmals versuchen.
Und zwar mit wissenschaftlichem Geist. Psychoanalyse wird gemacht, um die überkommenen Über-Ich-Konstruktionen abzubauen, inklusive die freudschen. Das hat nichts zu tun mit irgendeiner Therapie. Lassen wir die Therapie den Sklaven, wie die Ärzte es im antiken Rom waren. Es gibt eine consequentia mirabililis der Theorie »ohne Gewähr«: Sie besteht darin, dass in der Ordnung einer Nicht-Garantie das individuelle und das kollektive Subjekt automatisch zusammenfallen. Das ist eine politische Folge. Es ist nicht nötig, darüber nachzudenken, wie man das Individuelle dem Kollektiv unterwerfen kann, etwa durch Repräsentanten, die in öffentlichen Wahlen gewählt werden. »Ohne Gewähr«, das heißt ohne die Absicherungen, die Prioritäten festlegt, sind Individuum und Kollektiv a priori gleichwertige Subjekte und die Gleichwertigkeit ist ontologisch. So gesehen ist jedes psychoanalytische Subjekt politisch; es ist nicht nötig, einige davon zu parlamentarischen Repräsentanten zu machen.
Das ist wahre gelebte Demokratie. Das Resultat ist nicht gering, und genau das ist Freud, der von seiner Natur aus ein Autokrat war, entgangen. Seine Nachfolger haben diese schlechte Eigenschaft übernommen, was zur Fragmentierung der psychoanalytischen Bewegung geführt hat. Einige sind nun aus dem Schlaf der Sicherheit aufgewacht und in der RISS-Redaktion gelandet. Ihnen wünsche ich gute Arbeit, weil es noch viel zu tun gibt.
An der Abfassung dieses Textes habe ich keinerlei Verdienst. Ich habe mich lediglich auf Galileis Erfahrung gestützt, anstatt einen Roman zu schreiben, der möglicherweise »Ohne Gewähr« geheißen hätte.
Aus dem Italienischen übersetzt von Camilla Croce und Judith Kasper
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M. 1963, Suhrkamp, 63 [5.1361].