RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 96102 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.26).
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Fremdsprache(n) Unbewusst

Langue(s) étrangère(s) inconscient

Foreign Language(s) Unconscious

Iracema Dulley

Mehrsprachigkeit in der Analyse hält die Illusion des Verstehens auf Abstand und lässt die Materialität des Signifikanten stärker hervortraten. Das Unbewusste, so lässt sich Lacans Dictum abwandelnd sagen, ist wie eine Fremdsprache strukturiert.

Le multilinguisme dans l’analyse tient à distance l’illusion de la compréhension et fait ressortir davantage la matérialité du signifiant. L’inconscient, peut-on dire en modifiant le dictum de Lacan, est structuré comme une langue étrangère.

Multilingualism in analysis keeps the illusion of understanding at a distance and brings the materiality of the signifier to the fore. The unconscious is structured like a foreign language - this is how Lacan’s dictum can be modified.

Wenn das Sprechen die Praxis der Psychoanalyse ermöglicht, stellt sich die Frage, was für Sprachen man spricht. Wo beginnt und endet eine Sprache? Was ist eine Muttersprache? Welche sind die Effekte von Mehrsprachigkeit oder Fremdsprachigkeit in einer Analyse? Wie bilden sich Signifikantenketten in mehreren Sprachen? Werden sie im Unbewussten zu einer Sprache? Was heißt eine Sprache verstehen? Wie kann die Vermutung, dass man eine Sprache versteht oder nicht versteht, eine Analyse erlauben oder verhindern? Hier soll erwogen werden, inwiefern die Gewähr des Verstehens durch Fremdsprachigkeit in Frage gestellt wird.

In seiner Fallbeschreibung der Zwangsneurose, die als der Fall des Rattenmannes bekannt ist, lenkt Freud unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Verallgemeinerungen häufig nur einen einzigen Fall als Ausgangspunkt haben.1 Er verweist auf die Tatsache, dass sein Patient Paul, wenn er sich Sorgen macht, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn er etwas tut oder nicht tut, in Wirklichkeit besorgt ist, er könne den Tod seines Vaters verursachen. Das analytische Denken scheint in ähnlicher Weise vorzugehen. Der Grundstein jedoch, auf dem eine Theorie aufgebaut wird, ist meistens die eigene Erfahrung, sowohl für den Analytiker als auch als für den Analysanten. Wie kommt man von der Erfahrung zur Theorie und von der Theorie zur Erfahrung?

In meiner eigenen Analyse hat Mehrsprachigkeit eine grundlegende Rolle gespielt. Ich wurde in Brasilien geboren, wo Portugiesisch gesprochen wird. Der Vater meines Vaters war der Sohn eines Engländers und pflegte zu Hause Englisch zu sprechen. Wir taten das nicht, außer bei einigen seltenen Gelegenheiten. Ich hatte jedoch, seit ich sehr jung war, privaten Englischunterricht. Ich betrachtete Englisch nicht als meine eigene Sprache, aber wuchs mit der väterlichen Aufforderung auf, die Sprache meines Nachnamens (Dulley) zu lernen, die für meinen Vater die Hauptsprache war, in der die Welt kommuniziert. Ich lernte sie zwar, verleugnete aber jede intime Bindung zu ihr, bis ich als Erwachsene in New York lebte und Freunde hatte, mit denen ich Englisch sprach. Bis dahin war Englisch für mich eine Sprache, die ich um der Kommunikation und der Arbeit willen gelernt hatte; eine Sprache, die ich als Werkzeug zu benutzen glaubte.

Deutsch war die dritte Sprache, die ich gelernt habe. Ich begann im Alter von acht Jahren an einer internationalen deutschen Schule in São Paulo Deutsch zu lernen. Am Anfang war es für mich sehr schwierig, denn ich war nicht daran gewöhnt, diese Sprache zu hören und sehr schnell auf Situationen reagieren zu müssen, in denen sie verwendet wurde. Ich hatte nie die Illusion, sie als Werkzeug beherrschen zu können. Deutsch machte mir meinen Fremdheitsstatus in Bezug auf die Sprache deutlich, auch wenn ich diese Situation irgendwie genoss. In diesem Zusammenhang lernte ich Freunde kennen, mit denen ich sowohl auf Deutsch als auch auf Portugiesisch sprach (wir wechselten oft zwischen den Sprachen, sogar innerhalb eines Satzes). In diesen Beziehungen machte mir die Fremdheit der Sprache die Fremdheit der anderen sehr deutlich, und die Freundschaft, die wir entwickelten, hat das anerkannt. Das war für mich sehr befreiend. Ich fand einen gewissen Frieden darin, den Platz der Fremden einzunehmen, einen Ort, an dem die eigene Fremdheit als selbstverständlich angesehen wird. Durch diese Freundschaften entwickelte ich eine starke Verbindung zur deutschen Sprache, eine Verbindung, in der die Illusion der Zugehörigkeit und der Beherrschung nicht vorhanden war.

Als ich einen Analytiker suchte, suchte ich jemanden, der mehr als eine Sprache sprechen konnte. Mein Analytiker sprach sowohl Portugiesisch als auch Französisch, eine Sprache, die ich spreche, ohne mich in ihr gut zurechtzufinden. Ich habe meine Analyse auf Portugiesisch begonnen, und in dieser Sprache hat sich das meiste abgespielt. Als ich nach Deutschland zog, wollte ich unbedingt eine Analyse auf Deutsch machen, denn ich nahm an, dass diese Sprache meiner Jugend mir helfen würde, über Dinge zu sprechen, die ich auf Portugiesisch nur schwer ausdrücken konnte. Das war tatsächlich der Fall. Wieder einmal suchte ich eine Analytikerin, die mindestens zwei Sprachen beherrschte – Deutsch und Englisch. Ich dachte, ich würde hauptsächlich auf Deutsch sprechen. Doch während der Analyse stellte ich fest, dass ich nicht nur sehr oft ins Englische wechselte, sondern auch die meisten Fehlleistungen in dieser Sprache machte. Diese Erkenntnis war erstaunlich und befreiend zugleich, denn als ich merkte, wie sehr ich von dieser Sprache gesprochen wurde, konnte ich die Position verlassen, von der aus ich mir sagte, dass ich sie beherrschen müsse.

Ich bin oft auf die gängige Annahme gestoßen, dass eine Analyse nur oder besser in der Muttersprache durchgeführt werden sollte. Das hat mich nie überzeugt, denn diese Annahme beruht auf der Vorstellung, dass Sprachen in sich, also im Realen, verschieden und deswegen klar abgrenzbar sind. Die Grenzen der Sprachen sind jedoch eher imaginär, d. h. historisch. Das soll nicht heißen, dass es keine Grammatik, keine Struktur der Sprache und damit keine Unterschiede zwischen den Sprachen gibt. Aber eine Auffassung von Sprache, die auf den Konventionen von Grammatiken und Wörterbüchern und auf einer Unterscheidung zwischen Sprachen beruht, die sich auf die Namen stützt, die ihnen zugeschrieben werden, ignoriert die Tatsache, dass die mehreren Sprachen, die man spricht, im Unbewussten nicht in separaten Kisten leben.

Die Sprachen, die ein Subjekt spricht, sind die Sprachen, in denen es gesprochen wird. Es gibt keinen Namen für die Sprache, die von einem Subjekt gesprochen wird, wenn sie aus mehreren Sprachen entsteht. Jedoch gibt es diese Sprache. Etwas ähnliches passiert auch, wenn man nach Konvention nur in einer Sprache spricht; da fällt es aber leichter die Illusion zu haben, dass man die Grenzen einer Sprache, die oft mit den Grenzen einer Kultur assoziiert werden, kennt. Daher scheint mir die Forderung, dass jemand in der Analyse in ihrer oder seiner Muttersprache spricht, nicht nur implizit vorauszusetzen, dass es eine Mutter gab, die mit einem gesprochen hat (was empirisch nicht immer der Fall ist), sondern auch, dass diese Mutter in einer ursprünglichen Sprache gesprochen hat. In Le monolinguisme de l’autre (Die Einsprachigkeit des Anderen) hat Derrida das Sehnen nach einer Muttersprache mit den Wunsch nach Ursprung, Reinheit und Identität assoziiert.2

Die Sprachen, die man spricht, oder zu sprechen glaubt, sind relevant, wenn man sich für einen Analytiker oder für Analysanten entscheidet. Denn man braucht die Illusion, dass man zumindest eine Sprache teilt, damit eine Analyse stattfinden kann. Diese Illusion ermöglicht das Funktionieren des Imaginären. Was könnte aber passieren, wenn man diese Vorstellung auf Sprachen ausdehnen könnte, die man nicht spricht? Vielleicht könnten sie in Form von Signifikanten, die nicht zu verstehen sind, in die Analyse eintreten und uns so an die Undurchsichtigkeit der Signifikanten des anderen erinnern, was auch der Fall ist, wenn man behauptet, dieselbe Sprache zu sprechen. Da alles zu verstehen nicht das Ziel einer Analyse ist, sollte diese Tatsache kein Problem darstellen, solange die Undurchsichtigkeit der Signifikanten die Fähigkeit, ihnen zuzuhören, nicht behindert. Hängt diese Fähigkeit von der Illusion ab, dass die Sprache des anderen für einen nicht völlig undurchsichtig ist? Sind deshalb so viele Analytiker der Meinung, dass man die Analyse in seiner Muttersprache durchführen sollte? Ich bin versucht, diese Behauptung als das bloße Vorurteil einer einsprachigen Kultur abzutun, aber vielleicht steckt mehr dahinter.

Da ich schon immer in der Lage sein wollte, Analysen in den Sprachen durchzuführen, die ich spreche, ohne mich fragen zu müssen, ob der jeweilige Analytiker sie verstehen würde, wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, dass die materielle Grenze dessen, was man sagen kann, auch mit den Sprachen zu tun hat, die man mit anderen teilt oder nicht teilt.

Interessanterweise habe ich einen Analysanten, der drei der Sprachen spricht, die auch ich spreche. Er wechselt oft die Sprache und ich frage mich, wann das der Fall ist. Es scheint, dass der Wechsel zwischen den Sprachen von einer Sehnsucht nach dem fremden Kontext motiviert ist, in dem er sich mehr zu Hause gefühlt hat, auch wenn er sagt, dass er keine Erinnerung daran hat. Die Erinnerung, die er hat, ist diejenige an das Gefühl der Entfremdung in seiner sogenannten Muttersprache. Diese andere, ursprüngliche und zugleich fremde Sprache dringt in seinen Diskurs ein, wenn er versucht, Grenzen zwischen sich und anderen zu ziehen, die in seiner Muttersprache sprechen. Es scheint, dass die Möglichkeit, in seiner Analyse auf mehrere Sprachen zurückzugreifen, es ihm erlaubt, dem Zug seiner Assoziationen freier zu folgen.

Was meinen eigenen Prozess der freien Assoziation betrifft, so habe ich gelernt, auf die Signifikanten zu hören, egal in welcher Sprache sie kommen, und mich darüber hinaus zu fragen, woran mich diese Klänge in anderen Sprachen erinnern. Das Ergebnis ist eine seltsame Kette von Signifikanten, die aus Lauten bestehen, die in den Sprachen, in denen sie verwendet werden, sehr unterschiedliche Bedeutungen haben können. Doch worin unterscheidet sich eine solche Seltsamkeit beispielsweise von der Seltsamkeit der Signifikantenkette des Rattenmannes, in der Ratten mit Ehe, Schulden und Raten in Verbindung gebracht werden?

Lacan hat bekanntermaßen gesagt, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist. Als ich das Thema dieses Textes während eines Treffens in der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin diskutiert habe, meinte Arndt Himmelreich, dass man sich das Unbewusste vielleicht als Fremdsprache strukturiert vorstellen könnte, eine Idee, für die ich sehr dankbar bin. Man stellt sich Fremdsprachen oft als Sprachen vor, die man nie ganz beherrschen wird. Insofern als man das Unbewusste, so wie eine Fremdsprache, nicht beherrscht, bleibt es fremd. Die Unmöglichkeit dieser Beherrschung, die mit der Unmöglichkeit einer Gewährleistung der analytischen Arbeit zusammenhängt, wird durch das Auftauchen fremder Signifikanten besonders deutlich gemacht. »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus«, weil das Ich von einer Sprache gesprochen wird, obwohl es vermutet, eine Sprache zu sprechen. Also wenn das Ich behauptet, mehrere Sprachen zu sprechen, kann Fremdsprachigkeit dazu beitragen, »dem Unregulierbaren Gehör zu schenken«.3

Wenn man sich das Unbewusste als eine Fremdsprache vorstellt, tritt die Materialität der Signifikanten in den Vordergrund. In meiner Erfahrung mit dem Erlernen von Fremdsprachen war ich von diesem ersten Moment geprägt, in dem die Wörter sich einfach entziehen, weil die Art und Weise, wie sie klingen, noch nicht vertraut war. Das Erlernen einer Sprache ist ein Prozess, bei dem man zunächst die fremden Laute kennenlernt und dann lernt, sie mit Bedeutungen zu verbinden, die man bereits aus einer anderen Sprache kennt. In einem nächsten Schritt lernt man jedoch, dass es keine perfekte Äquivalenz zwischen den Signifikanten verschiedener Sprachen gibt, weshalb eine perfekte Übersetzung im Sinne einer vollständigen Äquivalenz unmöglich ist. Interessant ist, dass das, was für die Sprache der anderen gilt, auch für das eigene Unbewusste gilt.

Anmerkungen

1

Sigmund Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, VII: Werke aus den Jahren 1906–1909, 1941, 380–463: 388–389. Zum Prozess der Generalisierung in der Zwangsneurose und in der Psychoanalyse, siehe Iracema Dulley, The Case and the Signifier: Generalization in Freud’s Rat Man, in C. Holzhey & J. Schillinger (Hg.), The Case for Reduction, Berlin 2022, ICI Berlin Press, 13–37 <https://doi.org/10.37050/ci-25_02>.

2

Jacques Derrida, Le monolinguisme de l’autre: ou la prothèse d’origine, Paris 1996, Galilée; dt. als Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, übers. v. Michael Wetzel, Berlin 2003, Fink.

3

So eine Formulierung aus dem Exposé zu dieser Nummer des RISS.