Kluft: Es gibt keine Gewähr für die psychoanalytische Arbeit. Es gibt sie genauso wenig wie es Geschlechtsverkehr oder sexuelle Beziehungen gibt. – Letzteres Diktum ist doch bekannt, oder? – Sexuelles geschieht immer wieder, bringt auseinander und zusammen, erzeugt Spannung und Energie, subvertiert manchmal das Gewohnte oder will partout immer dasselbe, infiziert Signifikanten mit dem Signifikat und umgekehrt. Es heißt Lacan habe gesagt, dass das Genießen die Ontologie der Psychoanalyse fundiere. – Die Stelle habe ich nicht wieder gefunden. – Es gibt keinen fixen Punkt außerhalb, von dem aus etwas in Ruhe ermessen werden könnte. Das regt zwecks Balance Aktivität an, so dass man manchmal aus dem Häuschen ist. Sexuelles zeugt von der Präsenz des Körpers als Subjekt, vom Trieb als Grenzgeschehen an der historischen Kluft zwischen Psyche und Soma,1 zeugt von Angst, Lust, Begehren.2 Gewähr entsteht aus der Bearbeitung der Kluft, praktisch und theoretisch. Damit fing die Psychoanalyse an. Psycho hieß sie nur aus der Perspektive der Physis, der Physiologie, in der Freud bis dahin tätig war. Die Kluft wird zum Subjekt, die Kluft zwischen Einzelnen, zwischen individuellem Denken, gemeinsamer Theorie und Überzeugung, zwischen einer grenzüberschreitenden Psyche und den beteiligten Körpern.3 Die Psychoanalyse als garantierend feste Körperschaft zu begründen, ging bisher daneben.
Neue Ontologie: Das Theoretisieren, Praktizieren und Leben mit der Psychoanalyse4 verlangt eine Ontologie, die anders als von Aristoteles erhofft,5 das Reale nicht eineindeutig auf Dauer mit Sprache und Sprechen fassen kann. Ontologisch separieren lassen sich Sprache und Sprechen oder Schreiben vom Realen nur durch Fiktion, artifizielle Setzungen auf Zeit, ein »So tun als ob«. Standpunkte, die eine Weile halten. Es sind Texturen aus Grenzlinien. Von hier aus ist dann Gewähr möglich nur, indem sie in das eingreift, was sie gewährt. Gewähr wird in sozialen Aufführungen wahrnehmbar, mit Ritualen als Stepppunkten, die Reales, Imaginäres und Symbolisches zusammenzwicken. Die Beteiligten finden sich so im Politischen. Das Bildliche der Ironie,6 die Imagination, kann nicht identifizierend verhaftet werden. »Hier sehen Sie!« bleibt eine Geste des Zeigens ohne genauere Beschreibung. Eine Aussage wird im Wechsel zwischen metaphorischem (rituell) und metonymischem (es geht immer weiter) Fluss in Kooperation aufgeführt: Feste Verknüpfungen (Regeln) werden anerkannt, aber im Sprechen und Handeln mit der Zeit immer wieder in andere Aussagemöglichkeiten verschoben. So wie Lars Gustafsson schreibt: »Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.«7 Dass etwas medial, diskursiv und sozial fingiert ist, wie etwa Geschlechtsbeziehungen, sagt nicht, dass sie nicht vom Realen sind.8 Sie zeigen sich in ihrer Aufführung gefüttert vom Realen qua Lebenszeit, Entscheidungen, Ängsten, Ausbruchshoffnungen. Dies hat sogar Wirkung auf die Vergangenheit, nachträglich, d. h. es entsteht Zurückbeugenotwendigkeit: Im Akt, der sich ereignen mag, unter dem Schirm einer Fiktion – »Wir tun jetzt wirklich so als ob!« – entsteht Reflexion, gegenwärtig, um das Vergangene zu verstehen im Lichte der Zukunft.9 Gewähr entsteht immer wieder neu aus dem Zusammenspiel der Akteure, aus der Tatsache, dass sie spielen.
Gewähr ein Prozess: Psychoanalytisch wäre Gewähr dann ein Prozess des Gebens und Nehmens. Wenn die Gewährgebenden und Gewährnehmenden in einem imaginären Band inzestuös verbunden sind, flutscht das zu gut oder wird äußerst destruktiv. Dagegen hilft Exogamie. Der Wechsel des »Standes«, des Platzes, den man im sozialen Band der Psychoanalyse einnimmt, müsste Regeln unterliegen, die nicht nur von der eigenen Gruppe anerkannt werden. Das kann für den Einzelnen ungerecht werden. Das hat etwas Tragisches.
Sprung: In der Malerei von Daisy Parris finden sich ähnliche Tableaus der Herausforderung:
Und auch die Striche sind beweglich, aber entschieden. Sie sind nicht das Produkt eines zufälligen Lichteinfalls. Sie bilden nicht die Oberfläche von Gegenständen wie impressionistische Sonnenschirme oder Bäume, die sich je nach Kontext, Nacht oder Tag, Wetter und Wahrnehmung wieder verändern können. Bei Parris sind sie selbst das Objekt, die Essenz. Und damit sind sie keine flüchtige Oberflächenreflexion.10
Beziehungsseiendes: Logos ist das, was beim Sammeln von Eindrücken unter der Frage »Wie passen einzelne Seiende zusammen?«, Beziehungen beschreibt. Der Logos galt bisher meist als unabhängig von dem, was er abstrahierend in Beziehung setzt. In der Physik (Heisenberg, Einstein, Planck) oder in der Malerei, wie auch in der Psychoanalyse treffen wir auf Beziehungsseiendes. Freud hat das Übertragungsgeschehen freigelegt. Gewähr ist ohne Übertragung nicht zu denken. Eine kausale und konditionale Logik wird von Übertragung weitgehend ausgehebelt. Das Übertragungsgeschehen ist nicht einem Einzelnen zugehörig, eher spielt die Übertragung als angenehmes oder unangenehmes Integral zwischen mehreren Individuen. Sie ist kein Privatbesitz.11 Flüssig, zuweilen stockend verknüpft Übertragung Veraltetes mit Neuem und verhindert es auch. Was nicht zu sehen und zu hören ist, wird gegenseitig dazugetan. Handelnd. Harmonisch zusammenpassen – das geht nur mit Gewalt.
Modulationen: Gewähr – in der Psychoanalyse zeigt sich das deutlicher als anderswo – ist Modulation aus der Interferenz von Wahrnehmungen und Erkundungen der Umwelt, in Reibung mit den medialen Möglichkeiten einer präzisen Fassung, gefördert und gefordert durch ein Kollektiv. Modulationen bringen Gewissheiten des Fühlens, des Handelns, des Urteilens, des Denkens in Schwingung und halten sie zugleich. In der Modulation wird ein Übergang vorbereitet von einer Ausgangstonart in eine
andere Grundtonart und damit auch den Übergang zu einem neuen tonalen Zentrum (Tonika). […] Eine Modulation, die ohne abschließende Kadenz auftritt und nicht aus der ursprünglichen Tonart herausführt, wird als Ausweichung bezeichnet. Geschieht der Tonartwechsel ohne vorbereitende oder überleitende Schritte, so spricht man von einer Rückung.12
Begleitung: Gewähr gibt etwas hinzu zu dem, was schon geschieht, eine Begleitung, eine zweite Spur. Gewähr gibt ein Zeugnis ab. Und sie ist eine Antwort, nicht unbedingt eine ganz und gar zufriedenstellende. Das, was offenbleiben wird, kann für weitere Auseinandersetzung zur Voraussetzung werden.
Macht: Das impliziert, dass diejenigen, die eine Geste des Gewährens machen und aufnehmen, einen Vorrat an etwas haben, das sie gewähren können. Sie brauchen Zutrauen und Mut der Unterstellung sich zu überlassen. Und damit haben sie automatisch Macht. Das ist der kritische Punkt des Gewährens. Selbst Schenken generiert Macht.
Kritik: Gewähren ist eine Auswirkung von Kritik, die gegenseitig stützt. Kritik ist der Vollzug der Anerkennung als Differenz, Geschenk, Verstrebung und Stütze, die als Holzwege über einen sonst verschlingenden Sumpf an Einigkeit und Besserwissen gebaut werden. Gewähr und eine pragmatische Gewissheit entstehen zeitweise aus Zusammengehörigkeit in der Verschiedenheit. Darin kann das artikuliert werden, was fremd bleibt, ein Irrtum sein könnte. Kritik kann ausschließen. Das kann rettend sein. Sie hilft zur décollage, zum Entkleben, zum Neustart.
Fiktion einer Gewähr: Eingerichtet werden kann ein Austausch mit Analytikern an anderen Orten, ebenso mit Fremden, warum nicht auch Diskursfremden, die interessiert sind: Fiktion einer Gewähr. Es gibt keine andere, solange man nicht annimmt, dass sich darum ein Gott in unterschiedlicher Gestalt kümmert als Staat, als Internationale Psychoanalytische Vereinigung u. ä..
Freud hatte konsequent zufällig Reales tangiert, das Sexuelle, das der theoretischen Beschreibung mit hergebrachten Mitteln spottete, eine neue Praxis entwickelte und aus den überkommenen Institutionen und ihren Bezeugungsverfahren ausbrach.
Abstraktion: Die Abstraktionszumutungen entziehen den Menschen, den Dingen, den Verkehrsformen und den Autoritäten ihre Fundierung am Rand des Realen. Abstraktion verlässt aus Angst mit Begehr nach Gewissheit das Sensuelle und Sexuelle. Gewähr hat Teil an der Ethik, dem Mut, den vor der Entscheidung noch nicht bekannten Einzelfall zu entscheiden, ohne Rückgriff auf abgesichert Bekanntes, Vergangenes. Gewähr im psychoanalytischen Sinne begönne mit der Unterbrechung der Wunscherfüllung, dass es Gewähr und Garantie gäbe.
Was der Analytiker, im Gegensatz zum Liebespartner, zu geben hat, ist etwas, das die schönste Braut der Welt nicht überbieten kann, es ist das, was er hat. Und was er hat, das ist nichts anderes als sein Begehren als das Analysierte, und dies insofern, als es ein unterrichtetes Begehren ist.13
Zuweilen gilt das auch für einen Bräutigam, sogar.
Gefangen: Wie es zur Gewähr kommt, dem Gewahrwerden der individuell nicht zu findenden Lösung, beschreibt Lacan im Gefangenensophisma.14 Ein Urteil, eine Schussfolgerung, des Rätsels Lösung entsteht mit Investition eigenen Lebens.
Wird von Freud unterschiedlich thematisiert. Siehe z.B. Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse [1926], in ders., Gesammelte Werke, XIV, Frankfurt a. M. 1955a, Fischer, 209–296: 282; Sigmund Freud, Some Elementary Lessons (Schriften aus dem Nachlass) (1938), GW, XVII: Schriften aus dem Nachlass, London 1941, Imago, 139–147: 144; siehe dazu auch Mai Wegener, Die Kluft zwischen Leiblichem und Seelischem, in Marcus Coelen, Monique David-Ménard, Mai Wegener (Hg.), Die Freiheit der Psychoanalyse. Eine kommentierte Ausgabe von Sigmund Freuds »Die Frage der Laienanalyse‹«, Wien 2023, Turia + Kant, 52–58.
Das erörtert Jean-Luc Nancy, Sexistenz, übers. v. Thomas Laugstien, Berlin 2019, Diaphanes.
Freud geht in den ersten Sätzen von Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921] GW, XIII, London 1955b, Imago, 71–161: 75 über den selbstverständlichen Individualismus hinaus. Das wurde kaum weiter ausgearbeitet. »Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in diesem erweiterten aber durchaus berechtigten Sinne.«
Freud schreibt von der Psychoanalyse als Verfahren sui generis. Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse [1926], in ders. GW, XIV, Frankfurt a. M. 1955a, Fischer, 209–296: 216.
Philosophischen behandelt das Samo Tomšič, Sein und Lust. Der ontologische Skandal der Sprachautonomie, in Michael Friedman, Angelika Seppi, André Scala (Hg.), Martin Heidegger – die Falte der Sprache, Wien 2017, Turia + Kant, 89–118.
Siehe dazu den von Freud gelesenen Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus; mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911, Reuther & Reichard.
Lars Gustafssons Romanpentalogie von 1972 bis 1978 hatte diesen Satz zum Motto. In einem Band neu aufgelegt als Risse in der Mauer. Fünf Romane, übers. v. Verena Reichel, München 2006, Hanser.
Siehe dazu Christiane Voss, Fiktion, in Judith Siegmund (Hg.), Handbuch Kunstphilosophie. Stuttgart 2022, UTB, 455–466: 458.
Das erläutert mit Rückgriff auf das Künstlerbild der Romantik Dieter Mersch, Paradoxien, Brüche, Chiasmen, in ders., Michaela Ott (Hg.), Kunst und Wissenschaft, München 2007, Fink, 91–101: 98.
Daisy Parris: »Punk ist nicht tot, abstrakte Malerei ist nicht tot«. Gespräch mit Larissa Kikol, in Monopol, 4.3.2024 <https://www.monopol-magazin.de/interview%20daisy-parris-punk-ist-nicht-tot-abstrakte-malerei-ist-nicht-tot> [letzter Aufruf am 4.3.2024].
Vgl. hierzu Julietta Singh, Kein Archiv wird Dich wiederherstellen, übers. v. Lena Schmidt, Leipzig 2023, Merve, z. B. 28, 52, 56, 65.
Modulation, Wikipedia <https://de.wikipedia.org/wiki/Modulation_(Musik)> [letzter Aufruf am 11.3.2024].
Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. Seminar VII, übers. v. Norbert Haas, Weinheim 1996, Quadriga, 358. – Ich war versucht hier einen Absatz einzufügen zu Thomas von Aquin, Summa theologiae, Prima Pars, Quaestio 28 (1265-1273) <https://bkv.unifr.ch/de/works/sth-1/versions/summa-theologiae-prima-pars/divisions/222> [letzter Aufruf am 16.3.2024]. Dort wird Relation als Zugeneigtheit beschrieben. Die Psychoanalyse holt die ehemals transzendente Frage, was denn überhaupt etwas zusammenhält in die Immanenz. Ausgehend davon, dass sie bemerkt, dass das Individuum (aus)gesprochen sexuell, übergriffig und ergriffen ist.
Jacques Lacan, Die logische Zeit und die vorweggenommene Gewissheitsbehauptung. Ein neues Sophisma, übers. v. Hans-Dieter Gondek, in Lacan, Schriften I, Wien 2016, Turia + Kant, S. 231–251. – Siehe dazu auch: Karl-Josef Pazzini, Zukunft | Individuum, Kollektiv, Zeit, Kausalität, Nachträglichkeit, in: Roger Behrens, Frank Beiler, Olaf Sanders (Hg.), Zukunftsthemen der Bildungsphilosophie. Hamburger Dispute 1, Hamburg 2022, Katzenberg, 107–127: 80ff.