Claus-Dieter Rath starb überraschend schnell. An seinem Geburtstag, vier Tage vor seinem Tod, konnte ich es kaum an mich heranlassen, dass es schon so nah war, das Sterben. Vermutlich war unsere Überraschung ein Echo seiner Überraschung.
Vieles möchte ich ihm nachrufen. Es fällt immer noch etwas ein. Im Moment des Einfalls ist nicht klar, dass er das so wie gewohnt nicht mehr hören wird. Und sein Hören konnte man gut sehen. Antworten kann ich manchmal konstruieren.
Claus-Dieter Rath hat seit Mitte der 80er-Jahre als Psychoanalytiker in Berlin gearbeitet. Er kam über und mit der von Norbert und Vreni Haas, Jutta Prasse und Lutz Mai gegründeten Sigmund Freud Schule Berlin (1978–1987) zum Psychoanalysieren. Verbunden hat sie das gemeinsame Studium der Psychoanalyse von Sigmund Freud und Jacques Lacan; mit einigen hat er immer wieder zusammengearbeitet, so mit Jutta Prasse, bis zu deren Tod 2004. Zu nennen wären auch Hinrich Lühmann oder Lutz Mai (gest. 1997). Soweit ich das sehe, war etwas später für ihn die Ausarbeitung der Psychoanalyse in Straßburg im Kreis um Lucien Israël stark prägend, besonders intensiv die Zusammenarbeit mit Marcel Ritter. Aus Straßburger Zeiten kannte er auch Peter Müller und André Michels, mit denen er später noch in der AFP (1993–2014) und im Psychoanalytischen Kolleg (ab 2004) zusammenarbeitete. Sie gaben zusammen mit Achim Perner auch das Jahrbuch für klinische Psychoanalyse heraus (1998–2008). In Straßburg freundete er sich mit Moustapha Safouan (1921–2020) an. Claus-Dieter Rath hat 2021 für den RISS Erinnerungen an Moustapha Safouan notiert.1 Als ich sie jetzt wieder las, schien durch diese von großer Achtung geprägten Zeilen etwas durch, das auch Claus kennzeichnete. Das nehme ich auf:
Wie ich aus Gesprächen weiß, war es Claus wichtig, sich als Analytiker der Rede des Analysanten zu unterwerfen, des Aussagens gewahr zu werden, sich zurückzunehmen mit den eigenen Ansichten oder der Reproduktion aufgesammelten Wissens. Er hatte sich sensibilisiert für die Weise, in der ihm Analysanten sein Begehren, sein Wünschen, seine Absichten selbst bemerkbar machten. Das ist wohl auch ein Moment der Autorisierung als Analytiker zu arbeiten. Vielleicht wurde diese Aufmerksamkeit auch dadurch geschärft, dass er in Deutsch, Italienisch, Französisch und Englisch praktizierte.
Dazu passte sein europäisches Engagement für die Psychoanalyse mit der Gründung der Fondation Européenne pour la Psychanalyse (1991).
Claus war kein Vertreter Lacans oder einer lacanschen Rede, sondern er achtete Lacan, indem er mit ihm arbeitete, nicht mit dem ganzen Lacan und auch nicht einem kanonisierten, sondern einem zu ihm sprechenden und ihn ansprechenden Lacan, soweit das lesbar war – eine Auslese mit Achtung.
Claus kam zugute, dass er von seinen Studien her nicht nur Psychologe war, das Psychologiestudium kam zuletzt. Von Haus aus war er Kulturwissenschaftler und Kulturarbeiter. Er wollte verstehen, wo er zunächst zu Hause war.
Psychoanalyse als ein eigenes Genre bestand von daher schon aus einer Umarbeitung. Reagierte er einerseits empfindlich auf Vermischungen anderer Diskurse, etwa der Soziologie, Psychologie oder auch Politik mit der Psychoanalyse, hätte er stets anerkannt, dass die Psychoanalyse als reine nicht existieren kann.
Die Metaphern in der psychoanalytischen Theorie, wie auch in dem, was von Analysanten gehört werden kann, waren für Claus, so hatte er es schon für Safouan formuliert, körperbezogen. Immer wieder kam er auf die Nase, ihre Lage zu sprechen, auf die »organische Verdrängung« (Freud). Das war für ihn eine Formulierung, die die Verbindung von Organischem, der Biologie und Psyche mit der Zivilisation und Kultur in sich aufnahm.
Claus’ Körpergröße ermunterte dazu, in ihm einen starken Beschützer zu sehen, einen älteren Bruder, einen weltgewandten Vater. Das verführte dazu, zu übersehen, dass er ein zerbrechlicher, verletzter, auch ängstlicher Mensch war. Er hatte zu kämpfen mit der ihm zugewachsenen und zugedachten Macht. Lange sperrte er sich dagegen.
Claus Worte waren getragen von Freundlichkeit, Beharrlichkeit, Verlässlichkeit, gutem Aussehen, akzentuiert mit ausgesuchter Kleidung meist italienischen Zuschnitts und Materials, unaufdringlich. Damit schaffte er Form für Raum und Zeit zwischen den Anwesenden. Er verstand das nicht als Norm. Er war vorbildlich.
Das war Achtung für den Anderen, auf ästhetischem Weg, eine sinnliche Verbindung, die auch das explizit nicht Gesagte modulierte. Das galt im Übrigen auch für seine Texte und sein Vortragen. Mit Lust sprach er die Anmutungen wichtiger Signifikanten aus. »Der Rede Wert« hieß ein von ihm in der Freud-Lacan-Gesellschaft, Berlin, konzipierter Kongress, der zu seinem Buchtitel wurde.2
Das galt nicht nur für die semantische Ebene. Beschäftigt hat er sich immer wieder mit Lacans Konzept der Lalangue, das dem Realen des Sprechens nachging. Ich meinte bemerken zu können, dass ihm zuweilen der »Ohnsinn«, der sich darin realisierte, unheimlich wurde. In der Nähe des Unsinns, allzu forcierter Assoziativität, blitzte hinter geübter Contenance Unsicherheit auf.
Von Claus habe ich gelernt, Angst als Motor des psychoanalytischen Arbeitens zu schätzen, auch der Theoriebildung. Er pflügte Angst nicht durch Aktionismus unter. Er nahm sie vielmehr als Nahrung fürs Differenzieren. Er baute damit Tableaus von Zusammenhängen, oft durch Sprachwitz zusammengehalten. So entstanden wie erwähnt Titel: Der Rede Wert (2013), mit dem wichtigen Untertitel: Psychoanalyse als Kulturarbeit.
Oft hatte er einen Apparat zur Aufzeichnung des Hörbaren dabei. Ich hielt das für überflüssig, konnte er sich doch sehr gut erinnern, wer was wann wo gesagt hatte, ein Thema schon einmal behandelt hatte. Oft verwies er auf eigene Äußerungen. Er war ein Archivar.
Geboren unter französischer Besatzung und Befreiung, in einem Land, das vom Kulturbruch des Nationalsozialismus gezeichnet war, hatte er mit Freud viel trocken zu legen. Claus hat sich über Jahre immer wieder mit Freuds Satz auseinandergesetzt:
Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.3
Kulturarbeit war Claus’ Ding schon im Studium. Sein Leben und seine Arbeitsvorhaben, z. B. seine Beschäftigung mit Medientheorie und -praxis, seine Affinität zum Film sprechen davon. Die Inhalte waren oft mit dadurch entstehenden Freundschaften verbunden oder umgekehrt. Zunächst hat er, wie es damals hieß, volkskundlich studiert und geforscht. Claus wurde europäischer Ethnologe, das Fach hieß mittlerweile auch so. Das Volk, die Ethnie, die Familie und das Individuum, das sich aus diesen Zusammenhängen kristallisiert, in Bewegung und Austausch zu bringen, so Energie zu erzeugen, gehört zur Arbeit eines Psychoanalytikers.
Mit der Fondation Europénne pour la Psychanalyse (FEP) zusammen konzipierte er 1992 den für die Arbeit in der Psychoanalyse in Deutschland aber auch in Frankreich anregenden Kongress Lacan und das Deutsche – mit dem für die deutschen Voreinstellungen provokativen Untertitel: Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein. Mit Jutta Prasse publizierte er den Kongress.4 1998 folgte ein weiterer Kongress in Berlin mit der FEP über das Symptom mit kurzen Vorträgen, die eher Eingaben waren, vorher publiziert und dann von jemand anderem vorgestellt im Haus der Kulturen der Welt.
Durch Claus’ Arbeit an der Kultur zog sich ein roter Faden: Esskultur zu erforschen, praktisch, theoretisch, psychoanalytisch. Wie es rein und rauskommt. In einer frühen Arbeit, konturiert unter dem viele Assoziationen anstoßenden Titel: »Die Reste der Tafelrunde« (1984).
In Kalabrien befasste er sich mit fattura und Tarantismus, Umweltvergiftung, auch durchs Fernsehen, und dann in Deutschland, Skandinavien und in den USA mit den Massenmedien.
Fast wie eine Zusammenfassung seines gesamten Forschungsprogramms liest sich ein Satz aus dem Titel eines Buchbeitrags von 2005, der ein ganzes Programm entfesselt: Was uns fesselt – In den Fängen des Anderen. Notizen für eine psychoanalytische Untersuchung von vier Modellen kollektiver Vergiftungsvorstellungen: fattura und Tarentismus, Umweltvergiftung und die »Droge im Wohnzimmer«:
Jede Kultur produziert aber nicht nur [verschiedene psychosoziale, kjp] Strukturen und Zustände, sondern auch Theorien, Erklärungen, Definitionen, Beschreibungen, mit denen sie diesen eigenen Gebilden begegnet, um sie zu fassen: als Psychose, als Wahn, als biochemische Störung, als Auswirkung von Verhexung, Liebeszauber oder Besessenheit. Wobei die Gewissheit und die Überzeugungskraft dieser Erklärungen in Glauben, Okkultismus oder Wissenschaft gründen.5
Im Märkischen Viertel wurde die Begleitung des Filmens von Helga Reidemeister zur Analyse und zur Sozialarbeit.6 Er saß z. B. in Juries des italienischen Fernsehens, usw.
Claus hat vieles begleitet, was das Denken in der Psychoanalyse ermöglicht hat, die mehr und mehr zur Drehscheibe seines Lebens wurde. In Berlin und in Frankreich und Italien, und Europa und darüber hinaus.
Er war leidenschaftlich Lehrer und wollte keiner sein. Er hat wohl nicht gemerkt, wie sehr er es manchmal fast erzwingen wollte, dass die Hörer*innen doch bitte seine Einsichten akzeptieren und sich merken.
Die erste Begegnung mit Claus, die ich erinnere, war 1989 im Literarischen Colloquium Berlin. Er begann seinen Vortrag unter dem Titel »HyPsy – Historisierungen der Psychoanalyse«.
Zur Mittagszeit wieder ein paar Brocken – heute jedoch keine Sushi-Röllchen, sondern am Ende der ersten öffentlichen Tagung der Arbeitsfelder der Assoziation [Zeit zum Begreifen, kjp], einige Überlegungen zu einem der Verfahren, vermittels derer immer wieder die Fiktion einer Einheit der Psychoanalyse, der Psychoanalytiker und der mit Psychoanalyse Befassten genährt wird: Geschichte machen, Geschichten machen. Wie bietet sich die Psychoanalyse dar, in welche Röllchen schlüpft sie?7
Erst in den Tagen nach seinem Tod ist mir klarer geworden, dass es auch taktvoll umspielte Geheimnisse geben muss, Abdeckungen, Finten, Diskretion gegenüber vergangenem und akuten Leiden. Das verbindet und lässt zugleich Distanz.
Jetzt beginnt ein Experiment unter der Fragestellung: Was an Claus’ Geist, seiner Geistigkeit wird uns bleiben? Der Geist, der Spiritus, der Sprit, die Energie, das was der belebende Hauch aus der Schöpfungsgeschichte ist, der selbst aus Lehm belebte Menschen machen konnte? Freud schrieb vom »Fortschritt in der Geistigkeit« im Mann Moses. Gegengewicht gegen die schwere Materia. – Theorie und Wissen sind Trost und nehmen etwas von der Angst. Claus hatte viel Trost produziert.
Claus Rath wird jetzt ein Name, für eine bestimmte Art zu arbeiten, zu schreiben, zu reden. Alle, die ihm nahe waren, haben jetzt, ob sie wollen oder nicht, etwas von ihm an den Hacken. Immer wieder blitzt etwas davon auf, tröstlich und schmerzlich.
Freud wusste, dass die Toten mächtige Herrscher sind. Mit der Bildung von Claus’ Wirken und dessen Übersetzung, Umschriften und Umschreibungen ersparen wir Claus, was er nie sein wollte: herrschend. Uns ersparen wir die Unterwerfung unter Leid, Verlust und Opfersein.
Siehe: <https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/_files/ugd/4fe438_f4b67436cef04b529547259b271ea9fe.pdf?index=true> [letzter Aufruf am 28.01.2024]
Rath, Der Rede Wert. Psychoanalyse als Kulturarbeit, Wien 2013, Turia + Kant.
Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse [1933a], in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, XV, 1940, 86.
Jutta Prasse, Claus-Dieter Rath (Hg.), Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg 1994, Kore.
Rath, Was uns fesselt – In den Fängen des Anderen. Notizen für eine psychoanalytische Untersuchung von vier Modellen kollektiver Vergiftungsvorstellungen: fattura und Tarentismus, Umweltvergiftung und die »Droge im Wohnzimmer«, in Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller, Michael Wimmer (Hg.), Wahn - Wissen – Institution. Undisziplinierbare Näherungen, unter Mitarbeit von Jeannie Moser, Bielefeld 2005, transcript, 341–374: 341–342.
Siehe <https://basisfilm.de/portal/helga-reidemeister-werkschau/presse/> und <https://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm1015/101506b.htm> [letzter Aufruf am 09.02.2024].
Rath, HyPsy - Historisierungen der Psychoanalyse, in Brief der psychoanalytischen Assoziation Die Zeit zum Begreifen, 1990 (Sonderheft), 59–79: 59 <https://www.freud-lacan-berlin.de/wp-content/uploads/2022/02/Brief_der_psa_Assoz._Sond.Heft_01.pdf> [letzter Aufruf am 15.4.2024]