RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 4855 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.31).
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Eine nicht verträgliche Arbeit

Un travail incompatible

An Incompatible Work

Sergio Benvenuto

Die dritte Instanz, die der Staat verkörpert, um einen Arbeitsvertrag zu schützen, ist genau das, worauf sich die Psychoanalyse nicht berufen kann. Das Verständnis der analytischen Beziehung als Vertrag stellt eine imaginäre Garantie seitens des Analytikers dar. Die Implikationen, die die Lacan’sche Selbstermächtigung in dem Wettlauf um Anerkennung, der in Italien mit dem Ossicini-Gesetz begonnen hat, eingegangen ist, werden hier skizziert. Die Frage nach der Ethik der Psychoanalyse und der sozialen Bindung, die sie aufrechterhält, wird aus dieser Perspektive diskutiert.

La troisième instance qui, pour protéger un contrat de travail, est incarnée par l’État, est précisément ce dont la psychanalyse ne peut se prévaloir. Concevoir la relation analytique comme un contrat constitue une garantie imaginaire de la part de l’analyste. Les implications qui ont fait tomber l’autorisation par soi-même, souhaitée par Lacan,  dans la course à la reconnaissance qui a eu lieu en Italie avec la loi Ossicini sont esquissées ici. La question de l’éthique de la psychanalyse ainsi que celle du lien social qu’elle maintient sont discutées dans cette perspective.

The third instance embodied by the state to protect a labour contract is precisely what psychoanalysis cannot invoke. Understanding the analytic relationship as a contract represents an imaginary guarantee on the part of the analyst. The implications of Lacanian authorisation by itself in the race for recognition that took place in Italy with the Ossicini Law are outlined here. The question of the ethics of psychoanalysis and the social bond it maintains are discussed from this perspective.

In einem Kurs, den ich an einer italienischen Hochschule für Psychotherapie gegeben habe, berichtet eine Psychologin von einem ihrer Fälle, von einem Mann, der fünfmal versuchte, sich umzubringen. Die Psychologin sagt ihm, dass sie ihn mit Sitzungen begleiten wird, vorausgesetzt, er unterschreibe einen Zettel, der »Einwilligung nach erfolgter Aufklärung« genannt wird. Darin erklärt er sich bereit, (1) am Leben zu bleiben und (2) sie zu warnen, bevor er einen Selbstmordversuch unternimmt, falls er es noch einmal versucht. Sie wartet darauf, dass der Patient mit diesem unterschriebenen Vertrag kommt, um die Psychotherapie zu beginnen.

Der Vorschlag für diesen »Vertrag« könnte ein Gag von Groucho Marx gewesen sein. Aber es wäre ein Fehler, diese Episode als Beispiel für besondere Dummheit ab zu tun. Vorgänge dieser Art weisen auf eine allgemeine Tendenz unter Psychotherapeuten und auch Analytikern hin, sich absichern zu wollen. In den englischsprachigen Ländern sprechen Psychoanalytiker gemeinhin von der Analyse als einem Vertrag. Ist es ein Vertrag in dem Sinne, dass zwei Menschen sich verpflichten, sich regelmäßig zu treffen? Aber ein echter Vertrag impliziert immer eine dritte Instanz. Kurz gesagt, es muss die Möglichkeit geben, dass wenn eine der Vertragsparteien den Vertrag bricht, die andere sich auf diese Instanz berufen kann. Nun gibt es in der Analyse keine solche Instanz. Der Begriff des Vertrags ist eine imaginäre Garantie des Analytikers.

Es ist bekannt, dass Staaten die psychoanalytische Tätigkeit zunehmend regulieren – in dem Maße, in dem sie als Psychotherapie, also als soziale Dienstleistung, angesehen wird –, um die Nutzer der analytischen Behandlung zu beruhigen, die sich ängstlich fragen: In wessen Hände lege ich meine Psyche? Dahinter steht aber noch mehr die Angst der Analytiker, die sich vor möglichen Klagen enttäuschter und verärgerter Patienten schützen wollen.

Nun sind die Gesetze, die in den superindustrialisierten Ländern zunehmend die Praxis regeln, die ich »Psycho« (als Äquivalent zum shrink) nennen werde, die Folge des wachsenden Massenerfolgs des »Psycho«-Angebots. Die Konsumenten der Psycho-Behandlung verlangen, dass der Staat die Seriosität der Therapeuten durch deren Qualifikation irgendwie garantiert. In den 1980er Jahren gab es in Italien eine große Debatte um die Verabschiedung des Ossicini-Gesetzes von 1989, das auch heute noch in Kraft ist: Das Gesetz sieht vor, dass nur ein Psychiater oder ein Diplom-Psychologe, der eine vierjährige Ausbildung in Psychotherapie absolviert hat, als Psychotherapeut anerkannt wird. Der Signifikant Psychoanalyse wird im italienischen Gesetz nicht erwähnt. Damals unterstützten fast alle Analytiker, einschließlich der Lacanianer, das Ossicini-Gesetz, da vor diesem Gesetz die Psychotherapie aus rechtlicher Sicht nur von Ärzten durchgeführt werden konnte. Der Wunsch der Analytiker, anerkannt zu werden, war groß. Nicht als Analytiker, sondern als Fachleute, als Psychos, anerkannt zu werden, ohne sich kategorisch von anderen Psychos zu unterscheiden.1 Der Staat wurde aufgerufen als Anderer in einem Schutzersuchen seitens der Nutzer der Psychotherapie wie auch der Psychoanalytiker selbst.

Offensichtlich sehnen sich die Älteren nach der Zeit zurück, in der die Analyse eine anarchische Praxis war, in der es auf das »Talent« der Analytiker und nicht auf ihre institutionelle Zugehörigkeit ankam. Damals war man als Analytiker so etwas wie ein Künstler, ein Philosoph, ein Schriftsteller, ein Mathematiker ... Der Staat bringt Absolventen der Philosophie, der Mathematik und der Kunst hervor, aber er garantiert nicht, dass jemand ein Philosoph oder ein Mathematiker oder ein Künstler ist. Mit anderen Worten, es gibt nur eine Alternative zur institutionellen Anerkennung: den sozialen Erfolg. Ein Erfolg, der horizontal und vertikal sein kann. Ein Filmemacher z. B. strebt horizontalen Erfolg an, wenn seine Filme ein breites Publikum finden, und vertikalen Erfolg, wenn er von Filmfachleuten geschätzt wird, Preise gewinnt, gute Kritiken erhält, usw. Für einen Analytiker ist es dasselbe.

Hinter der Ablehnung des Staates als unbequemem Anderen in der exquisiten analytischen Doppelbeziehung – eine Ablehnung, die vielen Analytikern dazu dient, ihr Einkommen nicht zu versteuern – verbirgt sich also eine radikal liberale Sicht der Analyse: Erst der Erfolg eines Analytikers auf dem Markt für analytische Dienstleistungen macht ihn zum Analytiker. »Der Analytiker autorisiert sich nur durch sich selbst«, so wie der Unternehmer oder der Künstler sich selbst ermächtigt. Und es ist interessant, dass sie sich auf diese liberale Sichtweise berufen, normalerweise vertreten von radikalen marxistischen Analytikern. Dieser Widerspruch kann als Symptom gelesen werden: Heute ist der Radikalismus zunehmend libertär, und der Anarchismus eine radikale Form des Liberalismus. Die zeitgenössische Kultur ist zutiefst anarchistisch.

In der Tat ändern die verschiedenen staatlichen Regelungen nichts an der grundlegenden sozialen Hierarchie unter Analytikern: Es gibt die Erfolgreichen und diejenigen, die kaum über die Runden kommen. Und das Psycho-»Proletariat« besteht aus Menschen, die zwar einen Abschluss in Psycho-was-auch-immer haben, aber keine Klientel, und keiner angesehenen und mächtigen psychotherapeutischen Gesellschaft angehören. Psycho-Gespenster.

Seit Jahrzehnten wird gegen die Vision einer »normalisierenden« und »adaptiven« Psychoanalyse gewettert, während – so wird wiederholt – die Psychoanalyse sich von den Psychotherapien gerade dadurch unterscheiden würde, dass sie weder normalisierend noch adaptiv sei. Diese manichäische Unterscheidung wird jedoch vielen Psychotherapien nicht gerecht, die ihrerseits der Psychoanalyse vorwerfen, sowohl normalisierend als auch adaptiv zu sein! Wie zum Beispiel die Radikale Therapie, die Gestalttherapie usw.

Nun wird die berüchtigte »Normalisierung« nicht in erster Linie vom Staat oder der Phantomgesellschaft gefordert, sondern von den Klienten der Psychos selbst. Sie spüren, dass sie etwas »Unregierbares« in sich haben (wie es im Exposé dieser Nummer des RISS heißt), aber sie verlangen, dass dieses Unregierbare von ihnen selbst gemeistert werden kann. Dem Analytiker fällt es oft schwer, dieser Forderung nach Normalisierung zu widerstehen, der er dank Übertragung zu entwischen vermag. Es ist eine Illusion, wenn der Analytiker glaubt, dass sein vermeintliches Wissen durch ein rechtsgültiges Diplom garantiert werden kann: dieses vermeintliche Wissen erlangt er direkt vom Analysanten. An der Fähigkeit, die Übertragung in Gang zu setzen, wird der horizontale Erfolg des Analytikers gemessen. An der Fähigkeit des Analytikers, Gruppenübertragungen mit Kollegen (Massenpsychologie) herzustellen, wird sein vertikaler Erfolg gemessen, wahrscheinlich das, was Lacan als »transfert de travail« bezeichnete.

Es reicht nicht aus, wenn ein Analytiker sich coram populo als »nicht standardisierend und nicht anpassend« deklariert. Wichtig ist, zu sehen, was er tut, nicht was er sagt.

Nun ist es Teil der analytischen Ethik, den Analysanten nicht auf ein bestimmtes soziales oder moralisches Ideal eines »gesunden Subjekts« auszurichten. Der historische Erfolg der Psychoanalyse im letzten Jahrhundert ist gerade auf ihre Übereinstimmung mit der liberalen (nicht neoliberalen – der Unterschied ist entscheidend) Auffassung zurückzuführen, dass ein Subjekt seine eigenen Ideale, seine eigene Art, in-der-Welt-zu-sein, finden muss. Der Analytiker verzichtet darauf, dem Analysanten einen vorgegebenen Weg aufzuzeigen. Doch in den meisten Fällen stabilisieren sich unsere Analysanten. Kein Analytiker, auch kein Lacanianer, würde es als Erfolg ansehen, wenn der Analysant kriminell oder drogenabhängig oder pädophil oder mittellos wird ... Es stimmt, dass der Psychoanalytiker nicht ausdrücklich alle Formen der Abweichung aufzählt, die es zu vermeiden gilt, aber die Notwendigkeit, sie zu vermeiden, wird dem Analysanten unbewusst vermittelt. Wann wird es eine Analyse der Psychoanalyse als Theorie und als Praxis geben?

In der Tat folgt jeder Analytiker bestimmten impliziten Kriterien, um die Fortschritte des Analysanten zu bewerten. Und diese Kriterien sind in der Tat immer viel normalisierender und anpassender als der Analytiker glaubt.

Schließlich haben die Praxen von Analytikern, selbst die am deutlichsten linksorientierten, fast immer etwas Ernstes, Strenges, Professionelles, kurz: Hypernormales an sich. Manchmal sagt die Einrichtung eines Analytikers mehr über seine Praxis aus als alles, was er über die Analyse veröffentlicht. (Kürzlich sagte ein neuer Patient, er misstraue mir als Analytiker, weil ich eine Schachtel mit Taschentüchern habe, die längst aus der Mode gekommen ist, im Stil der 1980er Jahre. »Er ist wirklich zurückgeblieben!«)

Es stimmt, dass ein gewisser sozialer und zwischenmenschlicher Erfolg, der von bestimmten Analysanten erreicht wird, nicht die Folge des Strebens nach Erfolg als explizite analytische Vorgabe ist. Nehmen wir an, dass ein Analysant, nachdem er bestimmte Hemmungen überwunden hat, reich wird. Wir können sein Reichwerden als ein »plus« betrachten, so wie die Überwindung des Symptoms ein »plus« – so Lacan – der Analyse ist. Das heißt, die Bereicherung war nicht das Ziel der Analyse, nicht das, was sie predigte, sondern das, was sie erntete. Das moderne Kriterium der Anpassung und des Erfolges ist ja genau das: Erfolg zu haben, ohne ihn als Hauptziel zu verfolgen. Lacan ist auch sehr reich geworden, indem er Analytiker war, aber ich glaube nicht, dass er Analytiker wurde, um reich zu werden. Auf jeden Fall war das Reichwerden ein Nebeneffekt seines Erfolgs als Analytiker.

Eine gewisse romantische Rhetorik, nach der die Analyse etwas Un- oder A-Soziales sei, eine Zweierbeziehung ohne Vermittlung des Anderen, ist weit verbreitet, unter Lacanianern auch. Eines Tages in Mailand, um 1974, als Lacan zu einer Reihe von Treffen mit uns jungen Leuten in der Ausbildung kam, begann eine Analytikerin mit einer radikalen Rede dieser Art, aber Lacan widersprach ihr: »Nein«, sagte er, »die Analyse ist ein soziales Band. Sie hat nichts Subversives an sich!« Er war irritiert von einer gewissen subversiven Selbstgefälligkeit der Analytikerin. In der Tat beschrieb er den Diskurs des Analytikers als eine von vier möglichen sozialen Bindungen, die dieselben Elemente ins Spiel bringt, die wir in den anderen drei Diskursen finden.

Aber welche Art von sozialem Band ist die Analyse?

Freud erkannte, dass es drei unmögliche Berufe gibt: Regieren, Erziehen, Psychoanalysieren. Das heißt, die Psychoanalyse soll weder als eine Form der (Seelen)Medizin, noch als eine Form der Wissenschaft oder gar der Philosophie betrachtet werden. Die Psychoanalyse ist einePraxis wie Regieren und Erziehen. Man beachte, dass die Regierenden, die Politiker, nicht von einer Schule als solcher zugelassen werden: In einer Demokratie regieren sie, weil sie gewählt werden, sie sind horizontal erfolgreich. Sie mögen grenzenlos ignorant sein, aber sie sind erfolgreich. In ähnlicher Weise haben diejenigen, die erziehen, gelernt bei den Eltern, ohne Diplom: es sind die Auswirkungen auf die Erzogenen, die zählen. Für Freud gab es zwischen dem Analytiker, dem Politiker und dem Erzieher eine Gemeinsamkeit: dass es die Adressaten sind, die sie als solche anerkennen. Kurz gesagt, Freud hatte eine antiinstitutionelle, ultraliberale Vision der Psychoanalyse. Weit entfernt vom Marxismus.

Aber wieso handelt es sich um unmögliche Berufe? Regieren und Erziehen sind unumgängliche Tätigkeiten: In jeder Gesellschaft muss jemand regieren, in jeder Gesellschaft wird es immer Erzieher und Gebildete geben. Analysieren, ein solche moderner Beruf, scheint jedoch nicht unerlässlich zu sein. Dennoch glaube ich, dass es in jeder Gesellschaft »Seelsorger« gibt, an die man sich wendet, wenn man höchst subjektive Probleme hat – vom Schamanen bis zum Beichtvater, vom buddhistischen Lehrer bis zum Philosophieprofessor am Gymnasium. Für viele war das Führen eines Tagebuchs eine seelische Kur. Kurzum, seelische Fürsorge ist nicht weniger notwendig als politische Führung und Bildung.

Die Tatsache, dass die Psychoanalytiker andere Figuren der sujets-supposés-savoir ersetzt haben, ist darauf zurückzuführen, dass die Psychoanalyse zweifellos die unserer kapitalistischen Gesellschaft, die auf dem Primat von Wissenschaft und Technik beruht, am besten angepasste Form ist. Die Psychoanalyse ist weder Wissenschaft noch Technik, aber sie ist die seelische Fürsorge, die einer von Wissenschaft und Technik beherrschten Gesellschaft Ausdruck verleiht. Psychotherapien, die technisch-wissenschaftlich sein wollen, wie die kognitiven Verhaltenstherapien, bleiben dagegen zweitklassige Therapien für die unaufgeklärte Masse, Massentherapien. Die Psychoanalyse bleibt eine Praxis für wenige, bleibt von einem aristokratischen Heiligenschein umgeben. Ich meine das nicht in dem Sinne, dass die Psychoanalyse einer reichen Klientel vorbehalten ist (es gibt auch arme oder fast arme Analysanten), sondern in dem Sinne, dass die Psychoanalyse im Wesentlichen Ausdruck einer reichen Welt ist. Reich nicht nur an Geld, reich an Kultur, an Möglichkeiten, an Freiheit....

Hier höre ich auf, weil ich die Grenze der erlaubten Wortzahl erreicht habe...

Aus dem Französischen übersetzt von Camilla Croce und Karl-Josef Pazzini

Anmerkungen

1

Anmerkung der Übersetzer: Diese von Benvenuto im Französischen gebrauchte Abkürzung, »Psycho«, wird hier beibehalten, auch wenn sie in der deutschen Umgangssprache eher ausschließlich zur Markierung abweichenden Verhaltens verwendet wird und nicht auch – wie im Französischen – für Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse und ihre Akteure.