Kurz vor meinem dreißigsten Lebensjahr begann eine Phase, die mehr als fünfzehn Jahre andauern sollte und in der ich in regelmäßigen und unregelmäßigen Abständen (die sechs Monate aber auch fünf Jahre dauern konnten), von psychotischen oder parapsychotischen Manifestationen heimgesucht wurde, die jedes Mal nicht länger als drei Tage dauerten.1 Das Besondere daran ist, dass ich, sobald der Anfall beendet war, wenn nicht alles so doch große Teile dessen, was mir zugestoßen und durch den Kopf gegangen war, erinnerte. Jede neue Episode weckte zudem die Erinnerung an die vorangegangene. Die Erinnerung betraf nicht so sehr den Inhalt, im Grunde handelte es sich immer um Variationen ein und desselben Themas, sondern vielmehr eine schwer zu beschreibende Empfindung, nämlich eine Art unausweichliche Gewissheit, die jedes Mal mit der Gedanken- und Wortmasse, die mich angriff, einher ging. Da ich also viel erinnerte, beschloss ich, das, was ich erinnerte, aufzuschreiben, in der naiven Hoffnung, hinter der sich vielleicht nur mein ganz persönliches Bedürfnis verbarg, dass eine derartige Erzählung solchen Menschen hilfreich sein könnte, von denen ich viele kennengelernt habe, die noch mit viel schwereren und gewaltigeren Formen von Aussetzern, die über die Grenzen dessen, was zum Bereich geteilter Erfahrung gehört, hinausgehen, konfrontiert sind.
Beim Erzählen oder auch beim Lesen und Hören der Erzählungen anderer, die Ähnliches durchgemacht haben wie ich, wurde mir klar, dass Delirieren und Erzählen zwei entgegengesetzte Arten und Weisen, ja diametral entgegengesetzte Modi sind, die – keine Ahnung – in zwei unterschiedlichen Gehirnzonen, sicherlich aber in zwei unterschiedlichen Seelenschichten entstehen. Erzählen – so würde ich sagen – ist die höchste und distanzierteste Form der Rede; es ist die Form, die sozusagen im äußersten Teil unseres Geistes (mente) ihren Sitz hat, auf seiner Oberfläche, der dünnen Schicht, die ihn umschließt und die als erste reißt, wenn wir außer uns geraten. Demgegenüber haben die Wahnvorstellungen, die Überzeugungen, die Fähigkeit zu schlussfolgern und zu argumentieren viel tiefere Wurzeln; diese gewinnen die Oberhand, sobald diese dünne Schicht zerreißt. Es ist, als sei das Erzählen eine später entwickelte prekäre Fähigkeit des Menschen, dem gegenüber das Argumentieren, Schlussfolgern und komplizierte Gedankengebäude bauen viel archaischere Tätigkeiten sind, entstanden noch vor dem historischen Gedächtnis und in gewisser Weise an unser eigenes Überleben gebunden.
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Es ist mir nie gelungen, die Ursache für meine Wahnvorstellungen herauszufinden. Zumindest habe ich nie eine gefunden, die überzeugender als andere gewesen wäre. In einem gewissen Sinne gab es keine Ursachen. Oder auch zu viele. Die Ursachen, die man anführen könnte, die Gründe, die Psychologie und Medizin anbringen könnten, sind zahlreich, aber alle gleichermaßen unbedeutsam: eine Überreizung des Gehirns nach vielen Stunden, die ich damit verbracht hatte, eine schwierige kollektive Übersetzung zu korrigieren; ein Ausbruch philosophischer Leidenschaft, die Identifizierung mit dem Lehrer und übermäßige Eifersucht gegenüber den Klassenkameraden, ödipale Phantasien, das erste Auftauchen eines Kinderwunsches, unerklärte Lieben, unbekanntes Leiden, das um mich herum wirkte, oder auch vielleicht nur ein familiäres Gen. Keine dieser Ursachen schien mir jedoch jemals notwendig oder ausreichend, um diese Wahnbildungen zu dechiffrieren. Wie viele unserer Seelenzustände, unserer Verliebtheiten, unserer Zuneigungen, Idiosynkrasien und Wutausbrüche bleiben jenseits solcher plausiblen Erklärungen?
Eine der Haupteigenschaften dieser Wahnattacken war, dass mir ihr Anfang entglitt. Die Anderen – wer auch immer in meiner Nähe war – bemerkten es viel früher als ich, während ich mir dessen erst bewusst wurde, wenn ich schon völlig davon erfasst war. Dass ich mir dessen bewusst war, ist natürlich eine Übertreibung, vor allem die ersten beiden Male habe ich erst viel später verstanden, dass es mir schlecht ging; beim ersten Mal sogar erst, als alles wie auf wundersame Weise vorüber war.
Auch beim wirklich ersten Mal wurde der Anfang von den Anderen wahrgenommen und nicht von mir, zumindest nicht in derselben Weise; für die Anderen schien es eine Überspanntheit zu sein, für mich war’s eine große philosophische Eingebung. »Am Anfang war das Wort«. Von Anfang an schien es mir, in ein Universum gestürzt zu sein, das nur aus Sprache bestand. Wörter, da waren vor allem Wörter, aber die Wörter existierten, lebten, rannten, sie rissen mich los von jener anderen Welt, die ich, erst am Ende dieses Rittes, entdeckte als etwas, was für mich von unermesslicher Bedeutung war, die Welt der Sinne. Nicht jedoch aller Sinne, denn Seh- und Hörsinn fügten sich perfekt in den Wahn ein, sondern die Welt des Tastsinns, des Geschmacks- und des Geruchssinns, letzter war jedoch leider geschwächt aufgrund von jahrelangen zäh wiederkehrenden Erkältungen.
Am Anfang also war ein Wort, besser, am Anfang waren Wörter. Denn nicht mit einem Wort begann alles, sondern es begann nach einer ganzen Rede. Die Rede ging über Chimära und ihren Mörder, Bellerophontes, einem gescheiterten Philosophen, der verrückt wird und sich nach dem Mord dem eigenen Sterben überlässt, als Bestrafung für die Verstöße gegen das Gesetz, das verbietet, zu viel zu wissen. Es war das unerbittlichste Gesetz, wie die Versündigung gegen den Geist, von dem das Evangelium spricht. Es duldete weder Überschreitungen noch gewährte es Vergebung. Ein Verstoß würde unweigerlich das Irreparable bedeuten. Mir schien, dass sich vor mir ein direkter Weg abzeichnete, ohne Abkürzungen, ohne Abweichungen, den ich ganz zurückzulegen hatte. Oft, in den drei absurden Tagen, die auf den Anfall folgten, fühlte ich mich wie im Zentrum eines Flusses oder im Meer: ich sah das Ufer, hatte aber nicht genügend Kraft zu schwimmen.
Bellerophontes war ich. Verurteilt zur Schuld. Und die Schuld bestand in der philosophischen Erkenntnis, d.h. dem vollständigen Verständnis der Offenbarung, eine Schuld, die mit dem Tod bestraft wurde. Hier jedoch rebellierte etwas in mir, und heute könnte ich meinen Mut von damals, seinen Anfang und sein Ende, so zusammenfassen: besser der Wahnsinn als der Tod. So lautete meine Wahl. Eine Wahl, die nicht so einfach war, wie es vielleicht scheinen mag, eine Wahl, die nicht alle in einer solchen Situation getroffen hätten; und ich selbst, vor allem beim ersten Mal, hatte enorme Schwierigkeiten, diese Wahl anzunehmen.
Denn die Vorstellung vom Tod wurde in jenen drei Tagen zur Obsession. Während einer langen, unendlich langen, ersten Nacht schrieb ich einen Text, Scolio al pensiero di G., ein Text, der für die anderen schon nach Wahnsinn roch, für mich jedoch absolut verständlich war. Es war ein Text über die philosophische Figur, die auftaucht, wenn man Ausdrücke wie »Gedanke des Gedankens«, »Sein des Seienden« verwendet, aber nicht, so meine Antwort auf die Einwände, die ich erhielt, wenn wir sagen »cavalcare il cavallo« (das Pferd reiten; wörtlich: das Pferd pferden). Denn dieser Ausdruck sagt noch etwas. »Das Pferd reiten«, das kann man sehen, fast berühren, das ist noch etwas. Aber die Liebe lieben, den Gedanken denken, das Seiende sein, das kann man weder sehen noch berühren. Das sind Ausdrücke, in denen die Sprache aufhört, etwas anzuzeigen, das außerhalb ihrer selbst ist. Es sind Sätze, die nichts Bestimmtes oder Reales aussagen, aber die dennoch noch einen Sinn haben, einen Sinn, den alle in gewisser Weise verstehen. Solche Sätze – so behauptete ich und bemühte ich mich den ganzen Abend über nachzuweisen – haben eine Referenz, die aus ihrem Innern heraus entsteht; solche Sätze würden sich verstehen lassen, sofern man in den Worten bliebe. Diese Intuition erschien mir entscheidend, und ich konnte nicht begreifen, warum das die anderen so ratlos ließ. Ich suchte eine Weise, um diese Idee zu fixieren, das Spiel zwischen Sprache und Metasprache in einem Motto oder einem Wort anzuhalten. Alle großen philosophischen Ausdrücke waren nichts anderes als Figuren dieses Typs, Wiederholungen, Tautologien: die Liebe lieben; denken zu denken; Sein, das ist. Doch dieses Mal verflüchtigten sich die Tautologien nicht, sie entleerten sich nicht. Sie verschwanden nur für einen Augenblick, um dann sofort wieder aufzutauchen, und dann wurden sie etwas anderes, etwas Materielles und Volles, das weiter etwas sagen wollte, obgleich darin ein unendliches Echo hörbar wurde. Was anderes war die Philosophie, wenn nicht der richtige Modus, diese im allgemeinen leeren Sätze zu verwenden, die jetzt so voll von allem waren? Was anderes war die Philosophie, wenn nicht die Möglichkeit, dass einige Sätze – Ich bin ich, preadicatum inest subiecto (so häufig während der Gymnasialzeit und an der Universität wiederholt, ohne dass sie je etwas in mir auslösten) – plötzlich anfangen würden, etwas auszusagen, indem sie einfach und evident würden? Das Sein des Seienden, der Gedanke des Gedankens, nichts war konkreter, nichts offensichtlicher: das Haus, der richtige Ort des Gedankens.
Doch das gab mir keine Ruhe. Von Ruhe gab es keine Spur, und an Schlaf war nicht zu denken, obwohl es tiefste Nacht war. Ich dachte: nie wieder schlafen. Aber das war mir egal, denn eine Kraft und eine Energie stiegen in mir an, zusammen mit der Schlaflosigkeit und der Überzeugung, ohne das, was mir heute das notwendigste und prekärste Bedürfnis des Körpers zu sein scheint, auszukommen. Ohne Schlaf, dachte ich, gibt es weder Tag noch Nacht, kein alltägliches Leben, keinen Rhythmus, kein Hin und Her zwischen Erschöpfung und Erholung.
Stattdessen nur Exzess und Anmaßung. Aber die Anmaßung und der Exzess kennen kein Pardon, und mir sehen sie sowieso nichts nach. Jedesmal, wenn ich der Erfahrung meiner Potenz beiwohnte, die seltenen Male, die ich beim Spiel gewann oder wenn ich in der Schule oder an der Universität eine Prüfung besonders gut bestand, habe ich den Erfolg immer als Höhe verspürt. So dass ich, wie von einem Schwindel erfasst (und ich leide an Schwindel) schließlich falle, meist dann, wenn ich nah am Ziel bin. Vielleicht ist diese Erfahrung des Falls, der kompletten Umkehr des Zustands, den ich für einen Moment meinte, erreicht zu haben, nur eine Gegenmaßnahme des Ehrgeizes, um noch weiter in die Höhe zu steigen. Der übertriebene Ehrgeiz, nicht nur die Ruhmsucht, sondern auch die Glückssucht, erträgt den leichten Sieg nicht, und im Grund auch nicht den wohlverdienten. Er will sich in jedem Moment beweisen, jedes Mal von Neuem anfangen, und entwickelt dabei eine sehr raffinierte Fähigkeit so zu fallen, dass es in jedem Moment möglich ist, durch einen schlauen ungeschickten Zug, zum Ausgangspunkt zurückzukehren.
Der übertriebene Ehrgeiz läuft Gefahr, jedes Ziel zu versperren; ja, genau das passiert meistens.
Ich war dem, was ich damals für mein Lebensziel hielt, den sicheren Beweis meiner philosophischen Bestimmung, zu nahe gekommen. Als ich endlich diesen Beweis erhalten hatte, fing mein Geist an, immer schneller zu rennen: Gedanken auf Blättern, quasi-automatisches Schreiben, Schlaflosigkeit. Eilig hatte ich es, zu Schlüssen zu gelangen, einen Landeplatz zu finden, der dem, was schon begann, sich mir zu entziehen, eine gewisse Form geben würde. Ich spürte die Last dieses Exzesses und die Schwierigkeit, umzukehren. Die Erregung führte zum Sprechzwang, und ich sah die Angst in den Gesichtern der Freunde. Doch es gelang mir nicht aufzuhören. Ich begann selbst zu spüren, was meine Freundin Marina oft spürte, während ich sprach: die Lust, einen Wasserhahn zuzudrehen. Dessen Dichtung allerdings abgenutzt war, der, wie man in Neapel sagen würde, »spanato«, überdreht war. Nachdem ich Scolio al pensiero di G. geschrieben hatte, fanden meine Eingebungen einen Anker in einem Klassiker der Philosophie, dem Fragment von Hegel oder von Schelling, bekannt als Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Dieses Fragment beginnt damit, dass es den Fall der ganzen künftigen Metaphysik in die Moral verkündet. Und so, dank meiner neugeborenen Fähigkeit, den Wörtern der Philosophie Körper und Sinn zu verleihen, begannen all diese Infinitive, in Imperativen zu mir zu sprechen: den Gedanken denken, das Sein sein, die Liebe lieben wurden zu notwendigen Geboten, zu ethischen Gesetzen. Ich drang so in die seltsame Dimension dessen ein, was die Wörtlichkeit der Sprache ist. Was wir normalerweise zu sagen beabsichtigen, ist, in der Tat, nur ein Teil dessen, was wir wirklich sagen, denn jeder Satz enthält viel mehr als wir gemeinhin glauben zu sagen und zu hören. Und wenn es uns so scheint, eine einzige Sache zu sagen und zu hören, dann weil nur einer der möglichen Sinne, eine einzige Möglichkeit sich für uns entschieden hat. Die ganze Möglichkeit, die andere, nicht ausgewählte Möglichkeit, vergeht jedoch nicht, sondern bleibt unvernommen intakt in den Wörtern erhalten. Die Liebe lieben, den Gedanken denken, das Seiende sein begannen, mir als Infinitive und als Imperative zu erscheinen, als Aussagen und Befehle, als das eine und das andere, und nicht als das eine oder das andere. Alle Wörter, alle Ausdrücke sind Homonyme von etwas anderem; alle ähneln sich und können immer auch etwas anderes bedeuten. Dieses Andere war dabei mich anzugreifen. »Die ganze Metaphysik fällt künftig in die Moral.« Die philosophischen Sätze sind auch Gesetze, sind auch Gebote, wenn es uns nur gelingen würde, auch den anderen Sinn in ihnen wahrzunehmen.
Aus dem Italienischen übersetzt von Judith Kasper
Der hier abgedruckte Text ist ein Auszug in Übersetzung aus Antonella Moscati, Deliri, Rom, nottetempo 2009, 9–10 und 17–24.