RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 148153 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.34).
Ⓒ Die Urheberrechte liegen bei den Autor*innen. Alle Inhalte, ausgenommen Bilder oder sofern anderweitig angegeben, stehen unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.

Geschichte »ohne Gewähr«

Ijoma Mangolds Das Deutsche Krokodil

Histoire "sans garantie"

Le crocodile allemand d’Ijoma Mangold

Story "without Warranty"

The German Crocodile by Ijoma Mangold

Johannes Kleinbeck

Analyse des Romans Das deutsche Krokodil von Ijoma Mangold (2017). Der Autor zeigt, wie Gegenstände – hier ein ebenholzfarbenes Krokodil, das im Wohnzimmer der Eltern thront und auf die nigerianische Herkunft des Vaters verweist wie auf die koloniale Aneignung von Kunstgegenständen – zu Symbolen und zu Signifikanten werden, die ein inkommensurables Eigenleben in der Psyche des Ich-Erzählers entwickeln.

Analyse du roman Le crocodile allemand de Ijoma Mangold (2017). L’auteur montre comment les objets - ici un crocodile couleur ébène qui trône dans le salon des parents et qui renvoie à l’origine nigériane du père comme à l’appropriation coloniale d’objets d’art - deviennent des symboles et des signifiants qui développent des effets incommensurables dans la psyché du je-narrateur.

Analysis of the novel The German Crocodile by Ijoma Mangold (2017). The author shows how objects - in this case an ebony-colored crocodile that sits enthroned in the parents’ living room and refers to the father’s Nigerian origins as well as to the colonial appropriation of art objects - become symbols and signifiers that take on an incommensurable life of their own in the psyche of the first-person narrator.

Abbildung 1: Deutsches Krokodil, Märklin-Modell Spur H0 der Baureihe 94 der Deutschen Bahn.

Abbildung 2: Holzfigur, Umschlagabbildung von Ijoma Mangold, Das Deutsche Krokodil. Meine Geschichte, Hamburg 2017, Rowohlt.

Abbildung 3: Buchstabe »M«.

1933, im Jahr der Machtergreifung, kommt es im Märklin-Katalog zu einer Neuerung: Die Modelleisenbahnen CCS 66/12920 und CCS 66/12921 werden in der Produktbroschüre des schwäbischen Spielzeugherstellers erstmals als »Krokodil« bezeichnet. Schon bald wird dieser Name auch in der großen Welt für all jene Maschinen verwendet, die mit ihrem mächtigen Motor und Getriebe ideal dafür geeignet sind, nach dem sogenannten Anschluss Österreichs Güterwagen über die Berge der nun zum Reich gehörigen Alpen zu transportieren. Als eine bewährte »Kriegslokomotive« wird das »Deutsche Krokodil« deshalb schnell zum »Synonym für Kraft, Zuverlässigkeit und Langlebigkeit«.1 Nach 1945 verhält es sich dann bei der Eisenbahn wie in vielen anderen Bereichen: In der jungen Bundesrepublik bleibt das »Deutsche Krokodil« noch für Jahrzehnte im Einsatz. Erst in den 80er-Jahren wird es zunehmend ausrangiert. Seitdem führt das »Deutsche Krokodil« ein eigentümliches Nachleben: Unter nostalgischen Eisenbahn-Romantikern und passionierten Modell-Eisenbahnern ist die Lokomotive zu einem verehrten Klassiker geworden. Ihr Name kann aber auch zu einem »Zauberspruch« werden, zur Chance für neue, ganz andere Geschichten: So etwa in Ijoma Mangolds Das Deutsche Krokodil. Meine Geschichte von 2017.

Es handelt sich um die »Geschichte« von Mangolds Kindheit und Jugend. Er wächst in den 70er-Jahren in Heidelberg auf. Seine Mutter stammt aus Schlesien. Sein Vater kommt aus Nigeria nach Westdeutschland, um Medizin zu studieren. Im gegenseitigen Einvernehmen kehrt er nach dem Studium nach Afrika zurück und gründet dort eine »neue Familie«.2 Dieser Teil seiner Geschichte ist für den Jungen zunächst mit »Schamgefühlen« verbunden.3 Er empfindet ihn als einen »Makel« in der »Ordnung der Dinge«, in der alles »selbstverständlich« und »am rechten Platz« zu sein hat.4 Für ihn ist zunächst »nicht die Abwesenheit des Vaters … das Problem, sondern die Spur, die er hinterlassen hat, die Zeichen, die auf ihn verweisen.«5 Und es ist vor allem ein ganz bestimmtes »Zeichen«, das die »Hinterlassenschaft seines Vaters« zu offenbaren droht:6

Auf dem Fenstersims im Wohnzimmer steht ein Krokodil, das der Junge dort lieber nicht sähe. … Wie ein Wappentier des Äquators. Als wäre es seine Pflicht, jeden daran zu erinnern, dass dieser Haushalt eine besondere Verbindung zu Afrika pflegt. Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass die Holzskulptur die Rolle eines Botschafters spielt, der darüber wacht, dass niemand die Existenz des Kontinents, der ihn entsandt hat, verdrängt oder vergisst. … Das Krokodil ist ein Wahrzeichen Afrikas. Aber damit nicht genug. Das Krokodil ist auch aus Ebenholz: Keine heimische Baumart, sondern ein Holz, aus dem man in Afrika Werkzeug und Schmuck herstellt, und obendrein schwarz, als hätte das Krokodil in einem Akt der Solidarität mit den Menschen seines Lebensraumes deren Hautfarbe angenommen. … Damit auch noch der letzte Depp mit der Nase darauf gestoßen wird. Da kann man sich ja gleich selbst bei der Polizei anzeigen.7

Das »Krokodil« ist für den Jungen ein »Zeichen«, das in einer höheren Instanz versichert scheint. Es ist ein »Botschafter«, der ohne jeden »Zweifel« eine bestimmte Vorgeschichte »erinnert«, es ist ein »Wappentier«, das eine bestimmte Herkunft verbürgt, ein »Wahrzeichen«, das auf eine bestimmte »Hautfarbe« verweist. Die zur gesicherten Bedeutung erstarrte Bürde eines Zeichens, das der Junge mit der Übermacht der »Polizei« assoziiert, scheint nun jedoch für seine Schulfreunde keinerlei – oder eine ganz andere – Bedeutung zu haben. Was auf dem Fenstersims wie auf einem Sockel steht, wird von ihnen einfach für ganz andere Zwecke gebraucht: »Er ist jedes Mal verwundert, dass das Krokodil gern zum Spielen benutzt wird, ohne weitere Fragen über seine Herkunft nach sich zu ziehen.«8 Dass das »Krokodil«auch für den Jungen die vermeintliche Last seiner Bedeutungen verlieren kann, kündigt sich in einer Passage an, in der das einzige Mal der Titel von Mangolds Texterwähnt wird: Das Deutsche Krokodil.

Von seinem Großvater mütterlicherseits bekommt der Junge »leere Zigarrenschachteln« geschenkt. Dazu heißt es:

Er kann die Zigarrenschachteln gut gebrauchen, aber besonders faszinieren sie ihn, weil auf ihnen das Wort Fehlfarben steht. Der Junge liebt Wörter, die er nicht versteht. Wenn er bei seiner Oma ist, die anders als seine Mutter einen Fernseher hat, und die Ziehung der Lottozahlen verfolgt, heißt es immer ohne Gewähr. Je dunkler ein Wort, desto offizieller klingt es. Als liefen alle Fäden der unsichtbaren Macht, die die Welt regiert, darin zusammen. Ohne Gewähr ist kein Ausdruck, den er je über die Lippen brächte. Der konnte nur im Fernsehen bei der feierlichen Verkündung der Lottozahlen gesagt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem wichtigsten Buch, das der Junge besitzt: dem Märklin-Katalog. Hier ist schon alles zu sehen, was ihm einst gehören wird, die entscheidende Auskunft allerdings, was man für … das deutsche Krokodil, Baureihe 196 …, zu zahlen hat, ist wiederum – wie sollte es bei so wichtigen Informationen auch anders sein? – in einem Zauberspruch verpackt: Unverbindliche Preisempfehlung. … Das ist mindestens so unverständlich, wie wenn in Weihnachtsliedern ein Ros aus einer Jungfrau zart entspringt.9

Die ganze Passage kreist um die Frage, wie sich die Worte – vielleicht aber auch: wie sich alle Worte – »ohne Gewähr« vernehmen lassen. Zunächst könnte es den Anschein haben, als seien in den zitierten Sätzen jene beklemmenden Empfindungen verkapselt, von denen der Junge bis jetzt heimgesucht worden war. Denn verweist das »Krokodil« nur auf eine Modelleisenbahn oder auch auf eine Holzfigur, das wie ein »Wappentier«, »Botschafter« oder »Wahrzeichen« von seiner Vorgeschichte spricht? Klingt in der Zigarrenmarke »Fehlfarben« auch die Farbe des »Ebenholzes« an, aus dem dieses »Krokodil« geschnitzt ist (»statt einer weißen Marmorbüste eine schwarze Holzfigur«)? Und singt das Weihnachtslied Es ist ein Ros entsprungen nicht auch von ihm, dem Jungen, der zunächst lieber ohne Vater in die Welt gekommen, also lieber »aus einer Jungfrau zart entsprungen« wäre? In diesem Sinn könnten die Ausführungen zum Syntagma »ohne Gewähr«, das im Fernsehen verlässlich auf die »feierliche Verkündung« der Lottozahlen zu folgen pflegt, auch an all jene »Zeichen« erinnern, die der Junge als das Urteil einer höheren Macht empfunden hatte, als eine »offizielle« Sprache, in der »alle Fäden der unsichtbaren Macht« zusammenlaufen.

In der zitierten Passage kündigt sich allerdings auch etwas Anderes an: In seiner formelhaften Wiederholung hüllt sich jedes Wort in das »Rätsel«10 einer befreienden Unverständlichkeit. Und gerade diese Rätselhaftigkeit der Sprache ist es, die jede »Ordnung der Dinge« notwendig in Frage stellt, etwas – ein Zeichen, eine Holzfigur, eine Geschichte, ein Mensch – könnte überhaupt jemals »selbstverständlich« und »am rechten Platz« sein. »Ohne Gewähr«: In der zitierten Passage lässt sich diese Formel als die Chiffre für eine Sprache lesen, die die Reinheit ihrer Verständlichkeit, die Sicherheit ihrer Bedeutungen, die Unverrückbarkeit ihrer Kontexte nicht versichern kann. Ob eine »feierliche Verkündung« so und nicht anders verstanden wird, bleibt wie die Ziehung der Lottozahlen im Fernsehen dem Zufall überlassen. Was sich in einer Sprache »ohne Gewähr« vernehmen lässt, sind deshalb nicht die zur gesicherten Bedeutung erstarrten »wichtigen Informationen« einer Vorgeschichte, sondern der Umstand, dass in ihnen ein verheißungsvoller »Zauberspruch verpackt« sein kann.

Das ist es jedenfalls, worauf der Titel von Mangolds »Geschichte«buchstäblich hinweist: Dass im »wichtigsten Buch, das der Junge besitzt«, der Gegenstand seines Wunsches in einem unverständlichen »Zauberspruch« verpackt wurde, ist keine Versagung. Im Gegenteil: Die Rätselhaftigkeit einer Sprache »ohne Gewähr« kann den Freiraum für eine Geschichte öffnen, in dem der Junge werden kann, was er während seiner Lektüre des Märklin-Katalogs nicht besaß und auf dem Fenstersims als bedrückendes »Wappentier« oder »Wahrzeichen« seiner Vorgeschichte empfunden hatte: Das Deutsche Krokodil. Eingeschrieben in diese Wendung hat sich Ijoma Mangold allerdings nicht, ohne der Sprache selbst eine neue, eine andere Wendung zu verleihen. Denn was ist Das Deutsche Krokodil? Der Name für eine Modelleisenbahn in einer Produktbroschüre eines Spielzeugherstellers? Eine echte Lokomotive, auf die dieser Name übertragen wurde? Eine Holzfigur auf dem Fenstersims? Eine Schwarze Person, die in Deutschland aufgewachsen ist? Nichts davon und von allem etwas – vor allem aber ein Hapaxlegomenon, die Singularität von Ijoma Mangolds Lebenstexts, der den Untertitel Meine Geschichte trägt.

Anmerkungen

1

Christian Zellwenger, Faszination Krokodil. Bilder einer Eisenbahnlegende, Zürich 2013, AS Verlag, Klappentext.

2

Mangold, Das Deutsches Krokodil, 14

3

Ebd., 11.

4

Ebd., 14 u. 20.

5

Ebd., 14.

6

Ebd., 12.

7

Ebd., 46.

8

Ebd.

9

Ebd., 18f.

10

Vgl. Jean Laplanche, Neue Grundlagen für die Psychoanalyse. Die Urverführung, hg. v. Udo Hock u. Jean-Daniel Sauvant, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Gießen 2011, Psychosozial-Verlag, 159f.