RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 5660 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.35).
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Brief an die Herausgeber

Lettre aux rédacteurs

Letter to the editors

Sergio Benvenuto

Sergio Benvenuto antwortete auf die Kommentare, die sein Beitrag bei den Herausgeber dieser Ausgabe auslöste. 

Sergio Benvenuto a répondu aux commentaires que sa contribution a suscités parmi les rédacteurs de ce numéro.

Sergio Benvenuto responds to comments his contribution raised among the editors of the issue.

Liebe Freudinnen und Freunde,

wahrscheinlich wurden meine Einlassungen, missverstanden oder als irritierend empfunden, auch weil ich nicht die Möglichkeit hatte – der gewünschten Kürze geschuldet – meine allgemeine Position zur Psychoanalyse und zu unserer Gesellschaft darzustellen.

Wenn ich sage, dass die Psychoanalyse das soziale Band ist, »das bestens zu unserer kapitalistischen auf der Technowissenschaft basierenden Gesellschaft passt«, dann geht es nicht darum, sie zu verurteilen! So lässt sich erklären, dass sie mehr als ein Jahrhundert nach ihrer Erfindung relativ erfolgreich überlebt hat.

Ich komme aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften (Linguistik, Anthropologie, Soziologie) und bin daher sehr sensibel für den sozialen und kulturellen Kontext, der die psychoanalytische Praxis umgibt, also für die anthropologische Bedeutung der Psychoanalyse.

Tatsache ist, dass die Psychoanalyse in den großen reichen und industrialisierten Metropolen der demokratisch-liberalen Welt blüht. Sie ist nahezu unbekannt in den Entwicklungsländern und wird von den ideologischen Diktaturen verfolgt, wie es der Nazi-Faschismus, der Kommunismus oder die argentinische Militärdiktatur gewesen sind. Heute kämpft sie zum Beispiel in China um den Durchbruch.

Damit will ich nicht sagen, dass die Psychoanalyse nur für die Reichen gut ist (wir haben ziemlich arme Analysanten), sondern dass sie im Einklang mit einem kulturellen Reichtum ist, mit jener Kultur, die als Avantgarde der Modernisierung gilt. Trotz des äußeren Anscheins bleibt die Psychoanalyse ein grundlegendes Instrument der »Sorge um sich selbst« für die kulturell dominanten und einflussreichen Gesellschaftsschichten. Dies ist keine Kritik, sondern eine Feststellung.

Die in unseren Ländern vorherrschende – prestigeträchtigste – Kultur basiert auf der von Foucault aufgegriffenen Idee der epimeleiaheautou, der »Sorge um sich selbst«.

Die Grundidee seit der Aufklärung ist, dass jedes Subjekt eine singuläre Wahrheit über sich zu suchen hat, ohne dass sie von einer Autorität jedweder Art, politischer religiöser oder moralischer, vorgeschlagen oder auferlegt wird. Daraus ergibt sich die außerordentlich anarchische Idealität der modernen Kultur, die keine geistige Hierarchie vor der subjektiven Wahrheit akzeptiert.

Der Neoliberalismus (die Theorie des freien Marktes, worauf sich der Liberalismus nicht reduziert) hat von der Ökonomie eine anarchische Ansicht: die Spontaneität des Marktes entkommt jeder staatlichen Kontrolle, jeder Kontrolle »von oben«. Die Psychoanalyse liegt im Fahrwasser jener liberalen Anarchie, die eine anti-kapitalistische Maske aufgesetzt hat, aber ganz und gar mit den Grundwerten unserer marktwirtschaftlichen Kultur übereinstimmt. Die Weigerung vieler deutscher Psychoanalytiker dem Abrechnungssystem der Krankenkasse beizutreten, entspricht ganz der liberalen Denkweise.

Daher glaube ich, als Psychoanalytiker auf keinen Fall eine anti-kapitalistische Aktivität auszuüben – auch keine philo-kapitalistische.

Der Antikapitalismus ist für mich Teil der Dialektik des Kapitalismus, der sich von anti-kapitalistischer Kritik und Klassenkampf ernährt. Ich glaube, dass ich als Analytiker die Verwundeten behandle, die Opfer der modernen Gesellschaft (die nicht nur kapitalistisch ist), kurz gesagt, ich behandle das Unbehagen in der Kultur. Die Wirkung der Analyse ist positiv, wenn sie das subjektive Unbehagen vermindert.

Jede Kultur produziert ihr eigenes Unbehagen und ihre eigenen Mittel, es zu lindern. Die Psychoanalyse ist also ein integrierendes Moment der modernen techno-wissenschaftlichen Gesellschaft, so wie – um ein Beispiel zu nennen – so viele antike Philosophen, von Platon bis zu den Kynikern, die Polis bekämpften. Deren Kritik war integraler Bestandteil der griechischen Polis.

Was den Unterschied zwischen Psychotherapie und Psychoanalyse angeht, so vertrete ich nicht a priori eine manichäische Auffassung, d.h. es gibt keine Psychotherapie auf der einen und Psychoanalyse auf der anderen Seite.

Im Übrigen schrieb Freud, dass die Psychoanalyse auch eine psychotherapeutische Methode ist. Es geht darum, zu verstehen, was wir mit therapeutisch meinen.

Vielleicht meinen wir mit Psychotherapie all jene Ansätze, die auf die Ansprüche der Subjekte antworten: »Heile mich von dem Symptom!«. Die Psychotherapien konzentrieren sich auf die Heilung des Symptoms, und deshalb greifen sie auf Rezepte zurück. Die Eigenart der Analyse besteht darin, dass sie nicht auf die Heilung der Symptome zielt und keine Rezepte ausstellt, vielmehr schiebt sie an zu »analysieren«, das heißt jedes Subjekt dazu zu bringen, die Wahrheit über sein eigenes Begehren oder seine eigene Weise des Genießens zu entdecken. (Es gibt aber auch ohne Rezept arbeitende und nicht auf das Symptom fokussierte Psychotherapien, wie das Psychodrama zum Beispiel. So wird das Bild noch komplizierter).

Es ist gerade das nicht Präskriptive der Psychoanalyse, das ihren kulturellen Erfolg bestimmt: Die kulturell dominierenden Klassen, inspiriert von einer exquisiten anarchischen Philosophie, mögen keine Befehle und Vorschriften! Sie wollen nicht wie in einem Krankenhaus kuriert werden, sondern sie suchen jemanden, der sich mit ihnen gemeinsam um sie sorgt. Eine Sorgfalt1 um sich selbst, würde ich sagen. Hinter dem Unterschied zwischen Psychoanalyse und Psychotherapie zeichnet sich ein sozialer Klassenunterschied ab, in dem Sinne, dass die nach Rezepten verfahrenden Behandlungen gut für die weniger kultivierten und gebildeten Massen sind.

In allen Zeitaltern sind Praktiken und Kulturen sozial geschichtet. Wenn wir von der romantischen Kultur des 19. Jahrhunderts sprechen, beziehen wir uns immer auf einen kulturellen Stil der Eliten, bestimmt nicht auf die Masse, die nicht einmal wusste, was die Romantik ist. Auch in Deutschland.

Es wird mir gesagt, ich rede von dem Erfolg des Analytikers, nicht aber von dem der Patienten. Eigentlich bringe ich auch Beispiele von »erfolgreichen Patienten«. Viele betreiben heute vergleichende Forschung zu den »Wirkungen« der verschiedenen Ansätze, von der Psychoanalyse bis zur Pharmakologie. Tatsache ist, dass solche Untersuchungen zu divergierenden Resultaten kommen.

Meine Idee ist, dass die Psychoanalyse nicht zu einer Konversion führt, einer Metanoia im Sinne des Apostels Paulus, sondern zu einer einfachen Konversion, so wie wir sagen, dass ein landwirtschaftliches Gebiet für industrielle Aktivitäten konvertiert wird.

Mein Eindruck ist, dass meine Analysanden im allgemeinen zufrieden mit ihrer Analyse sind (die immer nur partiell, nie »beendet« ist), manche sind sogar begeistert, in dem Sinne, dass sie weniger unter ihrem Unbehagen leiden. Ich weiß nicht, ob sie besser an die Realität angepasst sind, sagen wir, dass sie sich nicht mehr zu sehr von der Realität erdrückt fühlen.

Aber auch im Verlauf der Analyse bereitet die analytische Erfahrung vielen einen Genuss. Es gibt ein Genießen im Sich-Analysieren, zweifelsohne. Dies ist eine Tatsache, der die Theorie kaum Rechnung zu tragen vermag. Was ich damit sagen will, ist, dass sich selbst zu analysieren bereits Teil der Lebensform jener sozialen Schichten ist, die im Zentrum der Modernisierung unserer (liberal-demokratischen, kapitalistischen, auf technisch-wissenschaftlicher Innovation und dem Primat der Subjektivität beruhenden) Gesellschaft stehen.

Ich entschuldige mich für die Längen.

Aus dem Italienisch übersetzt von Camilla Croce und Karl-Josef Pazzini

Anmerkungen

1

Im Original Deutsch