RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 6874 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.37).
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Ein Sprung in die Leere

Un saut dans le vide

A leap into the void

Cristiana Cimino

In den psychoanalytischen Institutionen verbergen sich oft Fallstricke, die dazu neigen, die Psychoanalyse zu domestizieren sowie das Setting auf groteske Weise zu praktizieren. Gegen diese harmlose Psychoanalyse setzt der Beitrag eine, die vor dem Todestrieb sowie vor den Risiken des Begehrens nicht zurückschreckt. Die Autorin bezieht sich dabei auf persönliche Erfahrungen sowie auf Fachinellis Gabe.

Les institutions psychanalytiques cachent souvent des pièges qui tendent à domestiquer la psychanalyse et à pratiquer le setting de manière grotesque. Contre cette psychanalyse inoffensive, l’article met en avant une psychanalyse qui ne recule pas devant la pulsion de mort et les risques du désir, en s’appuyant sur les parcours personnels de l’analyste et sur le don de Fachinelli.

Psychoanalytic institutions often conceal pitfalls that tend to domesticate psychoanalysis and to practise the setting in a grotesque manner. Against this harmless psychoanalysis, the contribution is held up by one that does not shy away from the death drive and the risks of desire, referring to the personal paths of the analyst and to Fachinelli’s gift.

Sicherlich ist die Psychoanalyse ohne Garantie, würde man gleich zum Titel dieses hunderten RISS-Heftes sagen, zu dem ich das Privileg habe beizutragen. Gewähr aber in Bezug auf was? Gewähr von was? Und von welchem Subjekt sollte oder könnte für die Psychoanalyse eine Gewähr übernommen werden?

Wenngleich diejenigen, die sie praktizieren, um die Macht des psychoanalytischen Instrumentes wissen, kann niemand die Ergebnisse einer Kur vorhersehen; es kann passieren, dass das Leben einer Analysant:in verändert, ja sogar revolutioniert wird, wenn man sich im Verlauf einer Kur dem Begehren aussetzt, aber auch dieser Übergang ist weder schmerzfrei noch in seinem Verlauf und seiner Form vorhersehbar; es kann aber auch geschehen, dass das Reale der Wiederholung sich durchsetzt, trotz allem, und dass ein Analysant mit einem Symptom zu tun hat, das viel zu schwer aufzugeben ist, weil es eine Quelle großen Genießens ist; oder dass die Kur an dem Felsen zerschellen wird, an dem sie laut Freud ohnehin zerschellen wird.

Nicht dass ich in diesem Punkt notwendig mit Freud übereinstimme, eher denke ich, dass Freud, nachdem er sich ein Leben lang mit dem Weiblichen beschäftigt hatte, es letztendlich abgelehnte oder für nicht praktikabel erachtete, was nicht wirklich etwas anderes ist, denn die Annahme der eigenen Kastration ist ein schwieriger und manchmal unmöglicher Weg.

In der Arbeit von 1926, der Frage der Laienanalyse gewidmet, bringt Freud sein Vertrauen in die Ausbildung von Analytikern durch die von ihm gegründete Vereinigung zum Ausdruck. Es konnte wohl nicht anders sein.

Wir wissen heute, dass die Fallstricke oft genau in den psychoanalytischen Institutionen verborgen sind. Seit Jahrzehnten versucht die von Freud gegründete psychoanalytische Institution, die Psychoanalyse, wie sie von Freud konzipiert wurde, zu domestizieren: zunächst die Vorstellung eines konfliktfreien Ich, dann die Zentrierung der Aufmerksamkeit ganz auf die »Abwehr«, schließlich die Einfühlung, klebrig und allgegenwärtig, die als eine formlose Schicht alles bedeckt, begleitet von einem kritiklosen Gebrauch der sogenannten »Gegenübertragung«. Neuerdings wird eine »intersubjektivistische« Perspektive bevorzugt, die die analytische Beziehung in eine Symmetrie zwingt bis zu dem Punkt, dass das Setting als eine Beziehung zwischen »sprechenden Gleichartigen« aufgefasst wird, unter dem Banner des Wohlwollens und des Primats des Imaginären.

Vom Nicht-Herr-Sein im eigenen Haus, vom Trieb, der um jeden Preis auftauchen will, vom Phantasma, das das Symptom und damit den Wiederholungszwang antreibt, vom unbändigen und grausamen infantilen Begehren, das Freud in der Traumdeutung identifiziert hat, gibt es kaum eine Spur. Der umstrittene Todestrieb wurde sehr früh vom psychoanalytischen Establishment verworfen, das nun die Relevanz des Triebbegriffs selbst in Frage stellt. In der Umgebung des psychologisierenden Sogs wird das Unbewusste zu einer obskuren und chaotischen Dimension. Es wird im Wesentlichen als unentzifferbar angenommen; bzw. die Entschlüsselung interessiert nicht sonderlich, was genau im Gegensatz zur freudschen (und lacanschen) Konzeption des Unbewussten steht, die auf dessen logische Struktur und eigene Sprache wettet.

In nicht allzu ferner Vergangenheit hat die Konzentration auf das so genannte »Setting« groteske Züge angenommen: Von der Frage, ob man Patienten die Hand geben soll oder nicht, bis hin zur krampfhaften Wachsamkeit, nichts über den Analytiker durchsickern zu lassen (was unmöglich und aus meiner Sicht irrelevant ist). Lange Zeit wurde über Winnicotts berühmte Geste diskutiert, einem weinenden Patienten ein Taschentuch anzubieten.

Der Begriff Abstinenz hat sich nach Freud in »Neutralität« verwandelt, was eine zutiefst missverstandene Version des ersteren darstellt und zur Absicht führt, alles, was den Analytiker betrifft, zu verbergen: was eine heute noch ziemlich unverständliche Sisyphusarbeit darstellt, weit entfernt von Freuds Aufforderung, das Genießen der Patienten, indem man abstinent bleibt, nicht zu befriedigen (also nicht zu befriedigen, was diese kontinuierlich verlangen). Was keinen einbalsamierten Analytiker voraussetzt, sondern einen im analytischen Kontext »freien« (und Freud war bekanntlich sehr frei).

Die Ritualisierung hat zur Schaffung eines Heiligenscheins um eine Praxis herum beigetragen, an der Grenze zum Mysteriösen und Lächerlichen, als hätte die Psychoanalyse etwas Okkultes an sich, was ganz imaginär ist. Das hat der Psychoanalyse sicher nicht gut getan, auch nicht den Psychoanalytikern, die schließlich daran geglaubt haben. Für viele von ihnen ist das Unbewusste ein chaotischer und letztendlich unergründlicher Ort.

Als Gegenschlag zur Neutralität erfolgte dann die self-disclosure1 wie eine Revolution, während sie hingegen eher einer aufgewärmten Suppe gleicht. Freud war bekanntlich eine fortwährende self-disclosure: Die Patient:innen, die in der Berggasse 19 ankamen, stießen auf seine Familienmitglieder, auf die Haushaltpersonen und auf die Hunde, die sich frei im Analysezimmer bewegen konnten, das voll von Objekten war, die viel über ihren Besitzer aussagten.

Ich bin froh, im Laufe meines psychoanalytischen Parcours, den ich mit einer lacanschen Analyse begonnen habe, die (bis dato) abgeschlossen ist, als »Lehranalytikerin«, d.h. in der Institution, Paolo Perretti getroffen zu haben, einen schlechthin freien Mann, der ohne Bedenken während der Sitzungen rauchte und mir sein Feuerzeug reichte, oder mit einem Pullover voller Haare reinkam und dabei einfach sagte: »Ich habe einen großen Hund aus der Maremma«.

Glück habe ich auch gehabt, weil ich an Supervisoren wie Luciana Bon De Matte geriet, die, obgleich sie den Begriff Gegenübertragung und seinen Gebrauch in der Kur verabscheute (»diese ganze Konfusion hat mit Paula Heimann angefangen« sagte sie verärgert), mich autorisierte, bestimmte ungewöhnliche Äußerungen, die auf mysteriöse Weise von Patienten ankamen, zu akzeptieren. Solche Ereignisse müssen sorgfältig und mit der nötigen Aufmerksamkeit behandelt werden, um nicht in die Fallen des Imaginären zu geraten; in dieser Hinsicht war das Denken von Elvio Fachinelli grundlegend.

Die institutionalisierte Psychoanalyse hat sich nach und nach bürokratisiert, ohne zu hinterfragen, was die Mitglieder an die Institution (und an die Psychoanalyse) bindet, also ihre Übertragung und natürlich ihr Begehren. Im Übrigen hat der Terminus Begehren nie den Institutionen behagt, nicht einmal in den Zeiten der Proteste und politischen Bewegungen. Letztere haben stets den Begriff »Bedürfnis« bevorzugt, vielleicht weil er weniger bedrohlich und subversiv ist. Das Risiko besteht darin, dass ohne das gewisse Etwas, das die Gabe im Sinne Fachinellis ausmacht, sogar die Praxis der Psychoanalyse zu einer verwaltungstechnischen Angelegenheit wird; dieses Etwas ist ein nicht quantifizierbares, unbezahlbares Pfund (im wahrsten Sinne des Wortes), das der Analytiker in der Kur ins Spiel bringen müsste und das sie zu etwas anderem als einer bloßen Ware macht.

Das Gesetz, das die Ausübung der Psychotherapie regelt, so wie es heute in Italien und in anderen Ländern verfasst ist, fasst die Psychoanalyse unter viele andere Therapieformen. Es autorisiert ausschließlich Ärzte und Psychologen, die Psychoanalyse auszuüben. Wer aber ist eher legitimiert, sie auszuüben? Ein Arzt? Ein Psychologe? Oder noch jemand anderes? Freuds Antwort ist diesbezüglich klar und deutlich: Die Ausübung der Psychoanalyse ist denjenigen vorbehalten, die wissen, wie man sie ausübt, denen, die sich als Psychoanalytiker gebildet haben; die einzigen Scharlatane sind diejenigen, die sie ohne Kenntnisse ausüben, und unter denen gibt es sowohl Ärzte und als auch Nicht-Ärzte. Freud, der das Abdriften der von ihm gegründeten Gesellschaft nicht mehr miterlebt hat, dachte, dass die Ausbildung eine »Garantie« sei. Heute wissen wir, dass dies nicht der Fall ist, dass die Ausbildung in gefährlicher Weise dem Konformismus, der Verwischung von Differenzen, der Ambiguität einer institutionell geregelten Analyse ausgesetzt ist.

Wenn Freud auch nicht ausdrücklich von Garantie spricht, so spricht er doch von der »schweren Verantwortlichkeit«2 des Psychoanalytikers: sie betrifft die eigene (Aus)Bildung, die eigene Analyse, sowie die Rechtzeitigkeit seiner Interventionen, was Freud »Takt« nennt; ohne die Aufforderung zu vergessen, sich gelegentlich einer weiteren eigenen Analyse zu unterziehen.

Ich glaube, dass der Beruf des Psychoanalytikers einzigartig ist, und zwar im etymologischen Sinne des Ausdrucks: der einzige, der jenseits jeglicher Regulierung oder Normalisierung Verantwortung für jeden singulären Analysanten übernimmt.

Was die Position des Analytikers auszeichnet, hängt sicher nicht am »Setting« (oder besser, das einzige mögliche Setting ist psychisch) oder an seiner Neutralität, sondern hängt an der Tatsache, auf Seiten des Begehrens dieses einzelnen Analysanten zu sein (ich nehme auf die Neurose Bezug). Es obliegt der Kur, die Ursache des Begehrens aufzuspüren, und wenn die Dinge gut laufen, wird der/die Analysant*in die Verantwortung dafür übernehmen. Dabei muss der Analytiker immer genau vor Augen haben, dass dieser Analysant, auf seine je eigene Art und Weise ausgerichtet wird, eben durch den Sog des Sich-Aufgebens an die Nicht-Existenz, die Rückkehr zu jenem «Anorganischen», das endlich Ruhe und Schutz vor den kontinuierlichen Süchten und Stacheln des Begehrens und/oder Genießens verspricht.

Der Todestrieb, der von der Institution (freilich nicht vom Lacanismus) verworfen und vernachlässigt wurde, ist der in der Kur stets anwesende steinerne Gast. Er ist das schwarze Herz des psychoanalytischen Konstrukts, sein wahrer Dämon, weil er das heikle Begehren enthüllt, das uns allen innewohnt und das ununterbrochen gegen den Eros arbeitet, den Impuls, den der Analytiker aufrechterhalten muss.

In dieser »Haltung« liegt die Verantwortung des Psychoanalytikers. Sie ist ethischer Natur, weil sie in der Realität ebenso Konsequenzen hat wie die Worte des Psychoanalytikers. Die wirkliche Gefahr für die Psychoanalyse besteht darin, diese Form der Verantwortung abzugeben, was schon weitgehend geschehen ist, zugunsten einer beruhigenden, »affektiven« Praxis (Heilung durch Liebe, vor der Freud warnte)3, die ihrer subversiven und auch für den Praktizierenden unbequemen Energie beraubt ist.

Nein, es gibt keine Gewähr für die Psychoanalyse, weder durch die Kur noch durch die psychoanalytische Institution, und noch weniger durch das Gesetz: denn für die Psychoanalyse gibt es keinen Anderen des Anderen.

Vielleicht liegt genau in diesem Sprung ins Leere, der letztendlich demjenigen ähnelt, der das Leben selbst verlangt, die Besonderheit der Psychoanalyse, die trotz der Risiken der Domestizierung, denen sie ausgesetzt ist, subversiv und unduldsam gegen Anordnungen und Reglementierungen bleibt, häretisch per definitionem. Genau wie das Begehren.

Aus dem Italienisch übersetzt von Camilla Croce und Karl-Josef Pazzini

Anmerkungen

1

i.O. englisch

2

Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse: Unterredung mit einem Unparteiischen, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1926, 46.

3

Hier ist nicht die Rede von Übertragungsliebe, worauf sich Freud z.B. im Briefwechsel mit Jung bezieht, vgl. Sigmund Freud, Carl Gustav Jung, Briefwechsel, Frankfurt a. M., Fischer 1974, 13, sondern von Liebe als gewöhnlicher Affekt, so wie Freud z.B. darüber in Zur Einführung des Narzißmus spricht, als er die Analytiker warnt, dass sie vom Analysanten »in der Regel« der analytischen Kur vorgezogen wird, vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke Band X, 15.