Erwartung ohne Erwartungshorizont, Erwartung dessen, was man noch nicht oder nicht mehr erwartet, vorbehaltlose Gastfreundschaft und Willkommensgruß, die der absoluten Überraschung des Ankommenden im vorhinein gewährt werden, ohne das Verlangen einer Gegenleistung oder einer Verpflichtung gemäß den Hausverträgen irgendeiner Empfangsmacht (Familie, Staat, Nation, Territorium, Boden oder Blut, Sprache, Kultur im allgemeinen, selbst Menschheit), gerechte Öffnung, die auf jedes Recht auf Eigentum verzichtet, auf jedes Recht im allgemeinen, messianische Öffnung für das, was kommt, das heißt für das Ereignis, das man nicht als solches erwarten und also auch nicht im voraus erkennen kann, für das Ereignis als das Fremde selbst, für jemanden [ihn oder sie], für den man im Eingedenken der Hoffnung immer einen Platz freihalten muß – und das ist der Ort der Spektralität oder der Gespenstigkeit selbst.
(Jacques Derrida, Marx’ Gespenster)
Schon seit Jahren weiß ich nicht genau, wie ich die Psychoanalyse anders denken, theoretisieren und begehren sollte, denn als Psychoanalyse-die-kommt, mit den Worten Jacques Derridas und René Majors, als kommende Psychoanalyse.
Kommend wie in dem, was kommt, wie die Ankunft des Kommenden, als Ankommendes oder Kommendes, wenn man das so sagen kann, die Zunge biegend und die Sprache krümmend und gleichsam als Aufruf an die Ohren zuzuhören.
»Psychoanalyse« sagen und dabei nichts anderes vernehmen können als »kommende Psychoanalyse« oder »Psychoanalyse, die kommt«, heißt den Anspruch zu erheben, sich stets zugleich sowohl in der psychoanalytischen Praxis als auch in der psychoanalytischen Theorie aufzuhalten. (Psychoanalysieren bedeutet, alles auf einmal zu halten. Nicht zurückzuscheuen. Nicht auf- oder nachzugeben. Wieder aufstehen. Fallen. Hinken. Stottern. Seine Ohren leihen, Gehör schenken. Der oder dem anderen – aber wem? Ohne zu fragen, wem. Denn wenn man glaubt, sagen zu können, wem oder was, dann gibt es kein(e) andere(n) mehr – die oder der ankommt. Und nicht ohne die Sprache. Mehr als eine.) Das heißt, in einer singulären Übung des Zuhörens. Mit singulären Ohren.
Die Anatomie der Psychoanalytiker ist erstaunlich, ihre Ohren haben Augen und ihre Zungen haben Ohren. Hélène Cixous hat einen Neologismus geprägt, den ich ihr entleihen möchte: »oroeil«. Man kann diesem Wort ein weiteres maßgeschneidertes hinzufügen, ein Verb in einem Wort, »sprechenzuhören« [parlécouter], womit ziemlich genau gesagt wäre, was das analytische Zuhören tut.
Singuläres Zuhören, sagte ich. Denn es geht selbstverständlich darum, zu hören, was gesagt wird oder sich sagt. Aber gleichzeitig, das zu hören, was nicht gesagt wird im Gesagten, was sich nicht sagt in dem, was sich sagt. Und zu hören, was sagt, dass was gesagt wird, nicht dieses oder jenes besagt. Oder auch, dass was gesagt wird, nicht das ist, was gesagt werden wollte, etc. Man spürt gleich, dass es schwindelerregend wird. Und diesen Schwindel gilt es gerade und unverzüglich widerhallen und nachklingen zu lassen, denn sobald das Sprechen zu den Ohren des Analytikers spricht, beginnen die Dinge sich aufzulösen [défaire] und wieder zusammenzusetzen [refaire]1, anders nachzuhallen. Die Gewissheiten lösen sich auf, die Identitäten zersplittern, zerfließen oder verkomplizieren und erweitern sich.
Der Titel des Textfragments, das sich hier schreibt (für den RISS (auf Französisch: schreiben für die fissure. Oder auch schreiben für die déchirure…), schreiben für/an/mit/gegen/um… herum/in/zwischen/weil/nicht ohne/den Riss, den Spalt, den Zwischenfall, das Hindernis – vielleicht tut man nie etwas anderes, sobald man einen Brief skizziert, Wörter, Sätze einzeichnet), trägt eine strukturelle Unabgeschlossenheit, eine grundsätzliche und endlose Öffnung, denn »im Kommen sein« bedeutet mehr und anderes als eine bloße Zukunft: »Die kommende Psychoanalyse«. Um darauf zu antworten und dafür Verantwortung zu übernehmen, müssen die Ohren den Satz nicht nur beim Wort nehmen, sondern auch die Vielheit vernehmen, die sich unmerklich darin abspielt. Wenn ich hier schriebe, was mir unter den Nägeln brennt, nämlich, dass jede Vielheit bereits ein Anzeichen des Politischen ist, so würde ich wahrscheinlich zu weit vorgreifen, aber ich würde damit auch deutlich zu verstehen geben, dass mein Anliegen einer kommenden Psychoanalyse ein Synonym für das Politische selbst ist, oder zumindest beinahe. Denn die Psychoanalyse ist eine Praxis der Relation (mit Édouard Glissant gesprochen, aber man könnte ebenso wohl sagen: eine Praxis der Relationen), der Beziehungen, der Verschiebungen, der Grenzen, der Grenzlinien, der Ränder, der Abweichungen, der Zufluchtsorte, des Asyls und der Aufnahme, des Empfangs. Was wiederum zu den Schwindelgefühlen der Sprache und der Ohren zurückführt, sobald »kommende Psychoanalyse« erklingt.
In der Tat entscheidet man sich (für eine Bedeutung) allein ausgehend von der Musik, der Körnung, der Färbung, der Reibung, der Zeitlichkeit, des Tons, des Klangs, des espacement, des räumlichen Intervalls der Sprache und der Zunge. Eine Frage der Zeichensetzung und der Satzzeichen, denn es ist nicht das Gleiche, ob man zum Beispiel mit einem Wort sagt, »diekommendePsychoanalyse« [lapsychanalysequivient], oder aber »die Psychoanalyse: wer kommt (an)?« [la psychanalyse: qui vient?]. Zwischen diesen zwei Aussagen liegen Welten.
Die unmittelbarste Bedeutung liegt zumindest darin, dass »mit einem Wort« diese sehr – allzu? – gelassene Affirmation auftaucht, dass es nämlich sehr wohl eine kommende Psychoanalyse gibt und also auch eine Zukunft der Psychoanalyse.
Die andere ist eine Frage: Wer kommt zur Psychoanalyse? Wer kommt, um eine Analyse zu machen? Und zugleich hören wir auch, dass es die Psychoanalyse ist, die (an)kommt. Dass sie selbst (an)kommt. Ich würde genauer gesagt behaupten, dass sie nicht aufhört anzukommen [de venir]. Zu werden [devenir]. Man wird es vernommen haben.
Die kommende Psychoanalyse deutet auf das unaufhörliche Werden der Psychoanalyse hin. Die kommende Psychoanalyse kommt nur an, weil sie wird. Man muss vernehmen, dass Psychoanalyse der Name einer Bewegung ohne Ende, ohne Abschluss ist. Und an dieser Stelle brechen viele weitere Fragen über uns herein.
Was so einbricht, kommt gerade recht und wie gerufen, denn es geht darum, gemeinsam Fragen zu stellen, um gemeinsam zu denken, sich gemeinsam, kollektiv, über diese seltsame Angelegenheit zu wundern, diese seltsame Praxis, die die Psychoanalyse ist, aber auch über diese stets merkwürdige Sache, diese überraschende, unberechenbare, unkalkulierbare, unvorhersehbare Sache, die eine Psychoanalyse ist. Diese Worte wähle ich nicht zufällig, denn was einbricht, ein/fällt und ein/stürzt, was kommt und ankommt, was überrascht, was unberechenbar und unvorhersehbar bleibt – eben das ist gerade die Angelegenheit, das Anliegen und die Sache der Psychoanalyse.
Die Aufnahme des Kommenden: etwas kommt wohl nur insofern an – das, was wirklich ankommen heißt –, als es unvorhersehbar ist; der Empfang des Ankommenden, das ist die Psychoanalyse. Darin besteht vielleicht die Minimaldefinition der Psychoanalyse.
Es ergeben sich zwei Dinge aus diesem Vorschlag. Ich nenne sie eine minimale Definition, weil ich der Meinung bin, dass es anders keine Psychoanalyse gibt. Ohne Empfang und Aufnahme von dem, was kommt, und/aber ohne ein Wissen darüber, was kommt, was eintrifft mit denen, die (an)kommen, gibt es keine Psychoanalyse, hätte es keine Psychoanalyse gegeben und wird es keine Psychoanalyse mehr geben. Aber »minimal« heißt auch, dass ab diesem Punkt der Aufnahme des Kommenden die Psychoanalyse nicht aufhören darf, zu denken und sich zu denken, ihre Arbeit auszuweiten auf alles, was kommen kann und was sie nicht kennt, wovon sie nichts weiß, das heißt nicht aufhören darf, zu mutieren, sich zu bewegen, sich neu zu erfinden.
Mit anderen Worten, eine Psychoanalyse, die davor zurückscheut, sich für das zu öffnen, was kommt und von dem sie nichts weiß, eine Psychoanalyse, die nicht in der Lage wäre, die Störungen, die Unruhe, das Unbehagen und die Fragen dessen anzunehmen, was – oder der, oder die? – ihr Wissen hinterfragt, ihre Epistemologie, ihre historischen Praktiken und ihre Theorien, nicht mehr das ist, nicht mehr das sein kann, was die Erfindung dieser Sache beansprucht hat, die den Namen Psychoanalyse trägt. Ich glaube, dass ein Satz von Henri Michaux sehr gut als Kompass (einer von mehreren) der kommenden Psychoanalyse, des Psychoanalyse-Werdens der Psychoanalyse fungieren könnte: »Ein neues Wissen braucht ein neues Hindernis. Sei regelmäßig darauf bedacht, dir Hindernisse zu suchen, Hindernisse, für die du eine Gegenmaßnahme wirst finden müssen… und ein neues Verständnis.«
Die irreduzible Alterität, die Fremdheit des Fremden, der oder das kommt, ohne eine wirkliche Wahl über sein Kommen zuzulassen – dafür wurde die Psychoanalyse erfunden –, man könnte darin ohne Schwierigkeit eine Weise vernehmen, das zu sagen und zu denken, was Freud »das Unbewusste« genannt hat. »Der Fremde im Haus«, sagt man manchmal, um es zu bezeichnen, mit Bezug auf die berüchtigte narzisstische Kränkung, der zufolge durch die Entdeckung des Unbewussten das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus ist.2
Freilich sehe ich darin einen Aufruf, unaufhörlich jedes vorausgesetzte, angenommene, bejahte und eingeforderte »bei sich«, jedes »Zu Hause« und jede »Heimat« zu analysieren, neu zu denken, zu zerlegen, zu demontieren, zu hinterfragen, warum nicht sogar sagen zu »dekolonisieren«, bis hin zur Möglichkeit selbst, »wir«, »ihr«, »bei uns«, »bei euch«, »mein Zu Hause«, »bei sich« zu sagen.
In dieser Hinsicht, mit Bezug auf diese Minimaldefinition, würde ich so weit gehen zu behaupten, dass »Psychoanalyse« gleichsam der stets abgekürzte Name dessen ist, was ihr anspruchsvollster Name ist: »kommende Psychoanalyse«. Damit möchte ich sagen, dass es keine Psychoanalyse gibt, die nicht eine kommende wäre. Was bedeutet das? Dass Psychoanalyse und Politik aufs Engste verschränkt, verbunden, man könnten sagen co-substantiell sind, dass sie ein Paar bilden, dass es die eine nicht ohne die andere gibt, und dass, wenn man sie trennt, man sie gewiss beide zugleich zerstört. (Es gibt hier also eine Unruhe, eine Sorge bezüglich der Zukunft, jedes Mal, wenn die Institution sich verkrampft und dogmatisch wird).
Psychoanalyse ist das, was durch das Kommen des Kommenden verpflichtet wird. Sie ist dem Kommenden verpflichtet. Das heißt egal wem, wem auch immer, der Ankommenden, dem Ankommenden. In unserer politischen Gegenwart ist es wichtiger denn je, an diese Forderung, ihren Anspruch zu erinnern. Diese Erinnerung – die ein Aufruf ist – kann sich auf die Vorgeschichte der Psychoanalyse berufen. Wie stets hängt alles an einer Spur, an einem Buchstaben, einem Brief. In diesem Fall an dem Brief, den Freud am 29. Dezember 1897 an Fließ schreibt, in dem man den Namen in mehr als einer Sprache erfährt3 – es ist hinsichtlich des Politischen wichtig, nicht aufzuhören, das Andenken an die Vielheit der Sprachen in der Sprache zu markieren. Hier das Jiddische, die kleine Sprache, Sprache des Überlebens, des Kampfes und des Widerstands, die fragile Sprache; und der Name, den Freud seiner fortschreitenden Ausarbeitung gibt, der allererste Name der Psychoanalyse: Drekkologie. Auf Deutsch heißt »Dreck« bekanntlich Schmutz, Unrat. Auf Jiddisch bedeutet es »Scheiße«.
Was die Behauptung stützt, dass die Psychoanalyse gerade durch das gefordert wird, von dem man es häufig vorzieht, den Blick abzuwenden oder gar die Augen zu verschließen und sich die Ohren zuzuhalten: das Kleine, der Abfall, die Reste und Spuren, das Fast-Nichts. Also auch das Zerbrechliche, Fragile, Verletzliche, das Verrückte, der und die Wahnsinnige, all jene, die man als solche bezeichnet und denen man sich nicht die Mühe macht, zuzuhören: Abfall, Reste, Müll… Da sind nun also die Bahnungen und Übertragungen des Unbewussten, die Fragilität der Psychoanalyse, die nicht zurückscheut – zumindest ist es als solche, dass sie stets weiter theoretisiert werden muss –, weder vor dem »Infra-Ordinären« (Georges Perec) noch vor dem »Abfall«, weder vor dem Namenlosen noch vor den Irrungen, weder vor dem Stottern noch vor dem Hinken und auch nicht vor dem Unerträglichen. Fragilität der Psychoanalyse als Wissenschaft, sage ich, insofern sie den »Dreck« zum »Gegenstand« hat. Man darf nicht vergessen, dass um den Empfang oder die Aufnahme anders zu denken denn als Ausübung der Macht, des eigenen Willens oder der reinen Souveränität (falls es eines sehr konkreten Beispiels bedarf, reicht es aus, an die immer weiter verschärften Einwanderungsgesetze überall in Europa zu denken, und vor wenigen Wochen hat auch Frankreich sich diesbezüglich durch besondere Niederträchtigkeit hervorgetan), um also das zu denken, was wirklich Aufnahme und Empfang heißt, muss man begreifen, dass der Aufnehmende nicht nicht zugleich auch vom Aufgenommenen aufgenommen werden kann. Lacan hat dies verstanden, wenn er die Psychoanalyse als Wissenschaft von dem definiert, was nicht läuft, was nicht funktioniert. Die Psychoanalyse entfernt sich hier von der Behauptung, zumindest seit Platon, der Philosophie als Königin unter den Wissenschaften, oder der Notwendigkeit eines Philosophenkönigs. Schließlich würde die einfachste etymologische Lesart der Drekkologie »Wissenschaft von der Scheiße« lauten.
Wenn man sie, in ihrer Struktur selbst, als Drekkologie denkt, als Aufnahme und Empfang des Kommenden, dann muss man daraus schließen – und es ist die Zukunft, die durch das Kommende eröffnet wird, so dass dies die Herausforderung für die Zukunft ist und zweifellos nicht nur für die Zukunft der Psychoanalyse –, dass das Subjekt ein Kollektiv ist, dass das singuläre Subjekt kollektiv ist, und zwar noch bis in seine Singularität hinein. Und folglich, dass die Psychoanalyse selbst eine kollektive Aufgabe, eine kollektive Übung ist, die Welten errichtet und sie trägt mit dem Ziel, die Existenz von Körpern mit anderen Körpern zu ermöglichen – der einen nicht ohne die anderen. In diesem Sinne ist die Sorge um die Zukunft eine Chance.
Vielleicht.
Aus dem Französischen übersetzt von Kianush Ruf
Lacan schlägt schlicht und einfach vor, die Psychoanalyse als das zu verstehen, was durch das Sprechen dasjenige auflöst [défait], was durch das Sprechen geschaffen [fait] wurde.
An dieser Stelle müsste man sich die Zeit nehmen, sorgfältig jeden Signifikanten zu befragen. Was ohne Zweifel das ist, was die Analyse macht. Den angenommenen Sinn durcheinanderbringen, zumindest von »Ich«, »Herr«, »eigen«, »Haus«. Das ist es, was, unter anderem, mit desidentifizieren gemeint ist.
Mehr als eine Sprache und mehr als ein Buchstabe, mehr als ein Alphabet zumal. Denn Freud schreibt in seiner Erfindung »Drekkologie« das Wort »Drekk« mit griechischen Buchstaben: »Sonst stampfe ich tüchtig weiter in der Δρεϰϰologie« (Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hg. v. Jeffrey M. Masson, dt. Fassung v. Michael Schröter, Transkription v. Gerhard Fichtner, Frankfurt a. M. 1986, Fischer, 316 [29.12.1897]). Dass die »drekkologischen« Schriften und Rezensionen verschwunden sind, stimmt nachdenklich. Dreck ist schließlich dazu verdammt, zu verschwinden. Das Schreiben – der Psychoanalyse – läuft darauf hinaus, gegen dieses Verschwinden anzukämpfen. Ich werde an anderer Stelle ausführlicher darauf zurückkommen.