Spontan fiel mir zur Thematik Ohne Gewähr eine Dokumentation aus dem Jahr 2016 ein, die ich kürzlich auf DVD angesehen hatte: Vincennes, Université perdue von Virginie Linhart. Gegründet 1969, erfolgte 1980 der Abriss dieser Universität, nachdem die Fakultät nach Saint-Denis verlegt worden war. Die Dokumentation zeigt das ehemalige Gelände, mittlerweile überwuchert, so dass nichts mehr an diese Institution erinnert. Sie sollte eine université du désir werden; Geschichte, Linguistik, Philosophie und auch Psychoanalyse wurden dort gelehrt – für alle, ohne Zugangsvoraussetzungen, Examen und Abschlüsse. Allerdings waren die Lehrenden sehr wohl durchwegs staatlich anerkannt und diplomiert. Diese Universität des Begehrens wurde schon nach wenigen Tagen besetzt und von da an ging es hauptsächlich um ideologische Machtkämpfe: Also wie soll diese Leer-Stelle des Begehrens mit einer spezifischen, politischen Lehre besetzt werden? Jacques Lacan sprach dort ein einziges Mal, am 3. Dezember 1969, und vollzog in einer kurzen, turbulenten Intervention (einem impromptu) einen psychoanalytischen Akt: »Ce à quoi vous aspirez comme révolutionnaire, c’est un Maître. Vous l’aurez.«1 Also in etwa: »Was ihr als revolutionär herbeisehnt, ist ein Meister. Ihr werdet ihn bekommen.« Lacan hätte auch sagen können »Ce que vous désirez comme révolutionnaire... / Was Ihr als revolutionär begehrt... «, aber dann wäre seine Antwort, seine Feststellung hochmütig gewesen, denn das Begehren, zumindest wie es die Psychoanalyse zu begreifen versucht, ist nicht kollektiv, sondern konfrontiert in seiner Subversion immer ein einzelnes Subjekt mit seinen vergeblichen Ansprüchen und Forderungen. Die Aspiration hingegen saugt das Subjekt auf, antwortet ihm auf seine Ansprüche mit Ideologien, von denen es sich vereinnahmen lassen und in denen es aufgehen soll; das französische Wort für Staubsauger ist aspirateur. 1974 formulierte Lacan sein Begehren bezüglich einer möglichen Lehre von Psychoanalyse an einem solchen universitären Ort wie Vincennes. In seinem kurzen Beitrag Peut-être à Vincennes schreibt er: »J’insiste à désigner de vraie une linguistique qui prendrait lalangue plus sérieusement«,2 also, dass dort unter anderem eine wahre Linguistik vermittelt werde, die die lalangue, d.h. das Genießen, das in jedem Sprechen den ideologischen Sinn unterminiert, ernst nehme.
Ein weiterer Gedanke, der mir beim Betrachten dieser Dokumentation in den Sinn kam, war das Angebot an Studienfächern dieser Universität des Begehrens, fehlten doch außer der reinen Mathematik fast alle Naturwissenschaften wie Medizin, Ingenieurskunst bzw. -wissenschaft usw. Nun würden wohl nur wenige das Wagnis eingehen, sich von jemandem behandeln oder operieren zu lassen, der seine Qualifikation einer Fakultät ohne Leistungsnachweise und Abschlussdiplom verdankt. Dieses Bild eines Laienchirurgen (wie dem zur Ader lassenden Bader im Mittelalter) verband sich in meiner Assoziation mit der von Freud an mehreren Stellen gebrauchten Analogie zwischen psychoanalytischer und chirurgischer Tätigkeit. Eine Analogie, die es im Gesamtregister der Gesammelten Werke in die Rubrik Gleichnisse, Metaphern und Vergleiche geschafft hat und so die einzelnen Stellen in Freuds Werk leicht auffindbar macht.3 Hier eine Verdichtung der Bezüge Freuds auf die Kunst des Operierens:
Die psychoanalytische Behandlung ist einem chirurgischen Eingriff gleichzusetzen und hat wie dieser den Anspruch, unter den für das Gelingen günstigen Veranstaltungen vorgenommen zu werden.4 […] Die psychoanalytische Arbeit bietet Analogien mit der chemischen Analyse, aber ebensolche mit dem Eingreifen des Chirurgen oder der Einwirkung des Orthopäden oder der Beeinflussung des Erziehers.5 […] Ich habe bei mir häufig die kathartische Psychotherapie mit chirurgischen Eingriffen verglichen, meine Kuren als therapeutische Operationen bezeichnet, die Analogien mit Eröffnung einer eitergefüllten Höhle, der Auskratzung einer kariös erkrankten Stelle u. dgl. verfolgt.6 […] Aber der Chirurg läßt sich bekanntlich von der Untersuchung und Hantierung am Krankheitsherd nicht abhalten, wenn er einen Eingriff beabsichtigt, welcher dauernde Heilung bringen soll.7 […] Es war auch wirklich nicht bequem, psychische Operationen auszuführen, während der Kollege sich ein besonderes Vergnügen daraus machte, ins Operationsfeld zu spucken, und die anderen den Operateur bedrohten, sobald es Blut oder unruhige Bewegungen beim Kranken gab.8 […] Nun fragen Sie sich selbst, wie viele dieser Operationen gut ausgehen würden, wenn sie im Beisein aller Familienmitglieder stattfinden müßten, die ihre Nasen in das Operationsfeld stecken.9
Und dabei ist sich Freud auch der Empfänglichkeit für Suggestion, die nicht selten zu einem Anspruch wird, bewusst: »Die Autoritätssucht und innere Haltlosigkeit der Menschen können Sie sich nicht arg genug vorstellen«.10
Was und wer autorisiert nun die Ausübung der Psychoanalyse, wenn sie doch mit dem komplizierten medizinisch-physischen Eingriff der Chirurgie verglichen wird? Zwar relativiert Freud diesen Vergleich in seinem Aufsatz zur Laienanalyse:
Die Gerechtigkeit erfordert das Zugeständnis, daß die Tätigkeit des ungeschulten Analytikers auch für den Kranken harmloser ist als die des ungeschickten Operateurs.11
Jedoch heißt dies nicht, dass ohne Gewähr jede Verantwortung ausschließt. Freud unterscheidet den Laien in seinem Aufsatz explizit vom Mediziner (Laien = Nichtärzte)12 und unterstreicht dabei, dass der ungeschulte Analytiker sowohl als Laie als auch als Arzt ungeschickt analysieren bzw. operieren kann. Aktuell würde man wohl eher eine Trennlinie zwischen Laien und Experten ziehen und die Expertenanalyse würde den approbierten Psychotherapeuten zugeschrieben werden, wobei die Approbation mit der Gewähr gleichgesetzt werden könnte. Ich möchte das Wort »Operationsfeld«, das Freud in den obengenannten Zitaten zweimal aufführt, verwenden, um das Feld der Analyse zu beschreiben: Einmal wird in das Feld von Kollegen gespuckt, dann wieder mischen sich Angehörige der Analysanten ein – es geht um eine Vereinnahmung. Was ist das für ein Feld und womit wird operiert? Ich denke, die Lacansche Abgrenzung einer aspiration vom désir kann hier weiterhelfen. Eine Aspirantin, ein Aspirant ist jemand in Erwartung: eines Postens, einer Position, d.h. einer Autorisierung, die durch einen Meisterdiskurs erfolgt. Wird diese Position eingenommen, verschwindet dieses Streben. Das Begehren hingegen ist der Beginn eines Strebens. Das Begehren des Analytikers – als der Expertenposition entgegengesetzt – verlagert die Frage nach der Gewähr: »Bewege ich mich überhaupt im Operationsfeld eines Begehrens?« ist die Frage der Analysierenden (d. h. Analytiker und Analysant im Feld der Übertragung). Expertinnen und Experten hingegen würden dieses Feld als gesetzt, d. h. als legitime, approbierte Position betrachten. Eine auf das Begehren setzende Analyse hingegen, deren einzige Gewähr eben dieses Begehren selbst ist, vollzieht die chirurgischen Eingriffe nicht routiniert; ob es überhaupt zu solch Eingriff gekommen ist, zeigt sich erst nachträglich. Man könnte nun einwenden, die Lacansche Formulierung des Begehrens des Analytikers sei nur eine etwas pathetischere Metapher für ein meisterliches Expertentum, aber ich denke, bereits der Signifikant Begehren weist auf etwas Nicht-Beherrschbares hin und hier kann man auch konkrete Ausbildungsfragen ins Spiel bringen: Analytikerinnen und Analytiker waren alle mal Aspiranten in den unterschiedlichsten akademischen Feldern wie beispielsweise Literatur, Ethnologie, Kunstwissenschaften, Medizin, Psychologie usf. Hier wurde eine Qualifikation und damit eine Position erworben. Das Begehren, Analyse zu praktizieren, entsteht nun aber aus einer Abweichung von dieser Position und mittels dieser Abweichung entsteht ein Operationsfeld, ein Begehren, das mit dem akademisch erworbenen Wissen zwar nicht übereinstimmt, dieses aber als Voraussetzung für die Abweichung und damit für die Entstehung eines Feldes, innehat. Und dies sollte auch keine Standardabweichung (kein écart-type) sein, d. h. nur durch Medizin- und Psychologiestudium legitimiert. So blieben Freud und Lacan immer auch Experten auf medizinischem Gebiet, oder beispielsweise Otto Rank auf dem Gebiet der Germanistik und Philologie, August Aichhorn in der Pädagogik, oder Theodor Reik, der Anlass der Abhandlung Freuds über die Laienanalyse war, auf dem Gebiet der Literatur- und Religionswissenschaften. Was diese akademischen Felder, auf denen sie alle auch einmal Aspiranten waren, angeht, sprechen die Psychoanalytiker mit einer gewissen Gewähr, d. h. sie wissen, wovon sie sprechen und wovon sie sich abgrenzen.
Der springende Punkt ist, dass ein Analytiker-Begehren im Unterschied zum akademisch erworbenen Wissen und Expertentum stets von neuem entstehen muss bzw. entstehen kann, von Sitzung zu Sitzung, ohne Gewähr. Identifizieren sich Analytikerin und Analytiker völlig mit der Expertenposition eines vermeintlichen Analytiker-Therapeuten wird die Frage nach einem Begehren (oder gar dem eigenen) erst gar nicht gestellt und es wird sich dann über den Berufsalltag auf trefflich bezeichneten Therapeutenstammtischen ausgetauscht. Begreift man die Ausübung der Analyse hingegen als eine Abweichung zur akademischen Position (des Wissens, das die jeweiligen Diplome und Staatsexamen garantieren), kann in psychoanalytischen Vereinigungen und Arbeitsgruppen über dieses flackerhafte Analyse-Begehren, das ein Operationsfeld erzeugt, diskutiert werden. Dabei kommt auch die Frage der Autorisierung ins Spiel: »Der Analytiker autorisiert sich selbst und durch einige andere«, so das Lacansche Diktum, würde heißen, man sollte etwas dazu sagen können, warum man diese Abweichung von der akademischen Position begehrte und eben nicht auf der Expertenposition verblieb und verbleibt. Auch wenn die jeweilige Wissenschaft ein permanentes Nichtwissen d. h. Weiterforschen impliziert, ist die Identifizierung mit diesem Wissen doch Voraussetzung für die Position, die Lehrende innehaben. Oder noch anders formuliert: Das universitär erworbene Expertenwissen bleibt einem als Analytiker erhalten, aber wenn es um das Begehren geht, ist eine Laienposition notwendig, da nur sie eine Offenheit erzeugt, welche Kontingenz ermöglicht, mit der dann gearbeitet werden kann: eine Klinik des Realen, wie Lacan dies nennt. So begriffen sind Analytikerinnen und Analytiker sowohl Experten als auch Laien und diese Spaltung bzw. Differenz begrenzt und ermöglicht ein Operationsfeld, in dem am offenen Herzen, d. h. am Begehren beider beteiligten Subjekte mittels Bestecks aus Wörtern, Assoziationen, Deutungen usw. operiert wird.
Zitat aus folgender Version: <https://ecole-lacanienne.net/wp-content/uploads/2016/04/1969-12-03.pdf>, 8 [letzter Aufruf am 5.12.2023].
Bezeichnenderweise wird die lalangue in manchen Versionen mit la langue wiedergegeben. Ich beziehe mich hier auf folgende Version: <https://ecole-lacanienne.net/wp-content/uploads/2016/04/1975-01-00.pdf> [letzter Aufruf am 5.12.2023].
Sigmund Freud, Gesammelte Werke, XVIII: Gesamtregister, Frankfurt a. M.1968, Fischer, 912.
Freud, GW, London 1948–52, Imago, XI, 478.
Freud, GW, XII, 186.
Freud, GW, I, 311.
Freud, GW, VIII, 56.
Ebd., 110.
Freud, GW, XI, 478.
Freud, GW, VIII, 109.
Freud, GW, XIV, 266.
Ebd., 210.