RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 256260 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.45).
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Wahren – währen – wehren

Conserver – Garantir – Défendre

To Beware – To Garantee – To Defend

Peter Widmer

Der Artikel geht der Etymologie des Wortes "gewähren" nach.

L’article analyse l’étymologie du mot "gewähren" (garantir).

The article explores the etymology of the German word "gewähren" (to guarantee).

das göttliche gesetz des einzelnen ist, seine eigenart zu wahren und zu wehren.1

dieses staates macht zu wahren und zu wehren halte

ich für die erste pflicht des deutschen patrioten.2

Der Titel für diese Jubiläums-Ausgabe des RISS lädt dazu ein, Linguistisches und Psychoanalytisches zusammenzudenken, denn »Gewähr« ist ein interessantes Wort, dessen Mehrdeutigkeit sowohl im aktuellen Sprachgebrauch, wie auch in der Etymologie begründet ist.

»Gewähr« lässt zunächst an »Garantie«, »Gewissheit« denken. Eine Instanz ist nötig, die dies zu erbringen vermag, aber der Analytiker – unbesehen seiner Geschlechtszugehörigkeit – ist dazu weder imstande, noch entspricht dies seiner Intention, denn »Analyse« kommt bekanntlich von ἀναλύειν was »auflösen« heißt.

Nun steckt in »Gewähr« das Wahre, der Bezug zu »Wahrheit« ist damit gegeben. Heißt das nun, dass die psychoanalytische Behandlung, weil sie auflöst und für nichts garantiert, ohne Wahrheit ist? Die Brisanz dieser Frage verstärkt sich, wenn an das gedacht wird, was in analytischen Kuren passiert: Nebst dem Sprechen der Analysanden, ihren Einfällen und Widerständen, gibt es Deutungen, die etwas auflösen, eine Meinung, eine Idee, eine Phantasie, gar ein Phantasma –, was als Wahrheit gehütet worden ist, erweist sich als Täuschung, Trug, Illusion.

Entweder kommen Psychoanalyse und Wahrheit nicht zusammen, oder diese muss anders gedacht werden: nicht als verborgene Substanz, die es zu entdecken gilt, sondern als Bewegung, Öffnung, Projekt, Utopie. Das klingt zunächst nicht einladend, denn von der platonischen Philosophie bis zum deutschen Idealismus gehören Wahrheit und Zeitlosigkeit zusammen. Ist die Psychoanalyse nicht auch diesen Idealen ausgeliefert, wenn sie mit Liebe zu tun hat? Weist nicht Nietzsches Wort, dass alle Lust Ewigkeit will, darauf hin? Und wie steht es mit der von Freud behaupteten Zeitlosigkeit des Unbewussten?

Seine Unterscheidung von psychologischer, materieller und historischer Wahrheit3 ermöglicht einen Ausweg aus der Sackgasse, denn die geschichtliche Dimension löst Fixierungen auf, ohne die Idee der Wahrheit aufzugeben. Sie verträgt sich mit Irrtümern, Illusionen, sogar Lügen. Bei Lacan hat sie sogar einen festen Platz in den Diskursmathemen,4 ohne dass sie deswegen substantifiziert wird. So kann Lacan sagen: Moi, la vérité je parle / »Ich, die Wahrheit, ich spreche«,5 womit er der Wahrheit die Funktion eines Agens gibt, der sich vom Anderen her durch das Subjekt artikuliert. Wahrheit entzieht sich damit einer Objektivierung, weil sie jedem Sprechen vorausliegt und sich gerade dann bemerkbar macht, wenn das Subjekt lügt.

Selbst das Unbewusste, das Phantasmen hütet, die sich der Zeitlichkeit widersetzen, verändert sich durch das Artikulieren, es finden Umschriften statt, wie Freud schon früh erkannte.6 Die Wahrheit wirkt ebenso als Agens wie als Telos, beide widersetzen sich der Objektivierbarkeit.

In der Psychoanalyse ist es üblich, Wörter mit ähnlich klingenden Wörtern in einen Zusammenhang zu bringen. »Ohne Gewähr« klingt ähnlich wie »ohne Gewehr«. »Psychoanalyse ohne Gewehr« – ein dummer Scherz, ein unbedarftes Wortspiel?

Die Etymologie von »währen« und »wehren« weist auf mehr als bloß zufällige lautliche Ähnlichkeiten hin: Wird etwas bewahrt, also nach Möglichkeit dem zeitlichen Verfall entzogen, wird es geschützt; es braucht dafür wehrhafte Leute, die Abwehrmaßnahmen treffen – wehren heißt, dem Raub, aber auch dem zeitlichen Zerfall vorzubeugen.

Die Psychoanalyse ist durch die Konzepte der Abwehr bzw. der Abwehrmechanismen damit vertraut. Die Abwehr gilt jedoch nicht einer äußeren, sondern einer inneren Bedrohung, unliebsamen Wahrheiten, die den Narzissmus bedrohen, auch gefährlichen Trieben, die das Ich überwältigen könnten, und Risiken des Lebens, die das Subjekt schutzlos lassen.

Freuds Nachfolger haben in erster Linie die intrapsychische Seite der Abwehr thematisiert, während er selbst, vor allem in seinen späteren Arbeiten, auch die interpsychischen Dimensionen gesehen hat. Darin wird das Prekäre der zwischenmenschlichen Destruktivität radikal thematisiert.

Welcher ist nun der Zusammenhang zwischen »wahren« und «wehren«, zwischen Wahrheit und Abwehr in der Psychoanalyse? Und was hat das mit Destruktivität in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun? Folgt man Freuds Aussagen, so gehört das Destruktive zu dem, was währt, was das menschliche Zusammenleben fortwährend bedroht. Schon im Entwurf einer Psychologie schreibt er:

Nehmen wir an, das Objekt, welches die Wahrnehmung liefert, sei dem Subjekt ähnlich, ein Nebenmensch. Das theoretische Interesse erklärt sich dann auch dadurch, daß ein solches Objekt gleichzeitig das erste Befriedigungsobjekt, im ferneren das erste feindliche Objekt ist, wie die einzig helfende Macht.7

35 Jahre später schreibt er:

Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten.8

Freud hat spät erkannt, dass die Ichtriebe nicht nur mit Hunger und Selbsterhaltung zu tun haben, nicht nur intrapsychisch sind, sondern die – in eigene Interessen eingebundene – Beziehungen zu anderen Menschen betreffen. Gegen diese Wahrheit hat die Psychoanalyse viel Abwehr mobilisiert! In der Psychoanalyse Lacans wird die Destruktivität vor allem im Seminar VII thematisiert, was damit zusammenhängt, dass er Freuds Triebdualismus nicht weitergeführt, das Destruktive mit dem Sexuellen zusammengehend aufgefasst hat.9

Wenn nun das Destruktive in der menschlichen Psyche anerkannt wird, heißt das, dass diese Wahrheit zu Kriegen, bewaffneten Konflikten führt? An dieser Stelle ist es notwendig, Mord vom symbolischen Mord zu unterscheiden. Dieser gilt nicht einem anderen Menschen, sondern einem Ding, das in die signifikante Ordnung aufgenommen wird, die sich um den Namen-des-Vaters anordnet. In seinem Namen entsteht die deiktische Ordnung, getragen von den austauschbaren Personalpronomen, allen voran »ich« und »du«.

Das Wahre ist das Destruktive, das abgewehrt wird. Soll es sich denn manifestieren dürfen? Die Psychoanalyse setzt nicht auf die Macht der Gewehre, sondern wehrt sich für das Sprechen, das schon in der Grundregel angelegt ist.

Durch die Artikulation wird den zerstörerischen Impulsen, den bedrohlichen Trieben, den narzisstischen Eitelkeiten das Unzeitliche im Unbewussten entzogen, das durch Verdrängung, Verleugnung, Verwerfung, durch Reaktionsbildung und Konversion aufbewahrt wird und darauf wartet, aufgehoben zu werden.

Anmerkungen

1

Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, <https://www.dwds.de/wb/dwb/währe> [letzter Aufruf am 27.5.2024]

2

Ebd., <https://www.dwds.de/wb/dwb/wehren> [letzter Aufruf am 27.5.2027]

3

Vgl. dazu Peter Widmer, Wahrheit bei Freud und Lacan, in: Kathy Zarnegin (Hg.), Die Wissenschaft des Unbewussten, Würzburg 2010, Königshausen & Neumann, 71–84.

4

Vgl. dazu Jacques Lacan, L’envers de la psychanalyse. Le Séminaire XVII, hg. v. Jacques-Alain Miller, Paris 1991, Seuil.

5

Jacques Lacan, Problèmes cruciaux pour la psychanalyse. Le Séminaire XII, version Staferla, 118, <https://www.lacan-con-freud.it/staferla-12.html>, [letzter Aufruf am 27.5.2024].

6

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fliess, hg. von J. M. Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. Fischer, 217 (Brief vom 6.12.1896).

7

Sigmund Freud, Entwurf einer Psychologie, in ders., Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1987, S. Fischer, Nachtragsband, 1987, 426.

8

Sigmund Freud, Unbehagen in der Kultur, in ebd., Bd. XIV, 1948, 470.

9

Vgl. dazu Peter Widmer, Destruktion des Ichs. Psychoanalytische Annäherungen an den Ursprung menschlicher Aggression, Gießen 2021, Psychosozial.