RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 7585 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.46).
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Das Wagnis der Analyse

Le risque de l’analyse

The risk of analysis

Camilla Croce

Der Beitrag thematisiert das Risiko der Analyse dabei sich einleitende auf das Lob des Risikos von Anne Dufourmantelle beziehend, in dem die Psychoanalytikerin schon vor einigen Zeit den Verlust in unserer gegenwärtigen Gesellschaft eine dem Leben nützliche und günstige Bedeutung des Risikos thematisierte. Das Wagnis betrifft die Analyse strukturell in ihren Akten und das schon ab dem ersten psychoanalytischen Akt des Übergangs von der Aufgabe der Analysantin zur Position der Analytikerin. In diesem Beitrag wird versucht die Struktur dieses Aktes zu veranschaulichen, dabei sich auf Lacans Vergleich im Seminar XV zwischen dem revolutionären und dem psychoanalytischen Akt stützend und den Akzent auf die Analyse als eine Reaktivierung der singulären Zeitlichkeit der Wiedergeburt zum Leben legt.

L’article traite du risque de l’analyse en se référant en introduction à l’éloge du risque d’Anne Dufourmantelle, dans lequel la psychanalyste thématisait déjà il y a quelque temps la perte dans notre société contemporaine d’une signification utile et favorable du risque. Le risque concerne structurellement l’analyse dans ses actes et ce dès le premier acte psychanalytique de passage de la tâche d’analysante à la position d’analyste. Cette contribution tente d’illustrer la structure de cet acte, en s’appuyant sur la comparaison de Lacan dans le Séminaire XV entre l’acte révolutionnaire et l’acte psychanalytique et en mettant l’accent sur l’analyse comme réactivation de la temporalité singulière de la re-naissance à la vie.

This article deals with the risk of analysis, referring in its introduction to Anne Dufourmantelle’s In Praise of Risk, in which the psychoanalyst some time ago theorized the loss in our contemporary society of a useful and favorable meaning of risk. Risk structurally concerns the acts of analysis, from the very first psychoanalytic act of moving from the task of the analysand to the position of analyst. This contribution attempts to illustrate the structure of this act, drawing on Lacan’s comparison in Seminar XV between the revolutionary act and the psychoanalytic act, and focusing on analysis as a reactivation of the singular temporality of re-birth to life.

Dafür müsste man in der Analyse ... das Gefühl eines absoluten Risikos haben.1

In ihrem Lob des Risikos fragt Anne Dufourmantelle: »Der Ausdruck ›Sein Leben riskieren‹, … bedeutet zwingend, dass man sich dem Tod stellt – und überlebt? … Wie können wir es als Lebende vom Leben und nicht vom Tod her denken?«. In unserer Kultur ist das Risiko eher mit dem Tod und dem Überleben assoziiert, es gilt als »heldenhafter Akt, purer Irrsinn oder abweichendes Verhalten«, aber Dufourmantelle zufolge heißt »sein Leben riskieren«, im Grunde das Risiko als Praxis zu leben, etwas zu wagen, »sich dem unbekannten Raum« vom Leben her zu öffnen, um in der Gegenwart zu sein. Sich einem »Sterben zu Lebzeiten, durch verschiedene Formen des Verzichts« zu verweigern.2

Sich vom Leben ans Leben heran wagen. Daraus entspringt eine Macht ähnlich der des Heideggerschen Seins-zum-Tode, das uns die Ek-sistenz erschließen soll, indem es, als Halt, aus dem wir uns entwerfen können, unsere Endlichkeit antizipiert. Dufourmantelle spielt jedoch einen anderen Akkord: Ohne die Endlichkeit in einer Unbegrenztheit zu ertränken, die das Dasein versteinert, anstatt es wieder in Bewegung zu setzen, lenkt sie die Akzentuierung auf das Leben, die Aufmerksamkeit auf eine andere Unmöglichkeit, eine andere Grenze. Nicht die unseres Todes, sondern die des Lebens, eines andauernden Anfangs, eines Exzesses, der direkt aus dem glühenden Kern des Lebens kommt, der ebenso skandalös ist wie der Tod und auch einen eigenen psychischen Raum beansprucht. Es ist kein Zufall, dass es eine Philosophin war, die gegen das Sein-zum-Tode die Natalität setzte, obwohl Hannah Arendt die Psychoanalyse fremd blieb.

Die Psychoanalyse hat mit dem Geboren- und Wiedergeborenwerden zu tun, mit dem Schmerz und dem Risiko, die jede Geburt begleiten. In der Analyse lässt sich dieses Risiko in jeder Sitzung spüren: Immer wieder muss von Neuem ein Anfang gewagt werden. Sprechen heißt, dem Wort jenen Sprung ins Leben zu gestatten, der einen Anfang bildet. Zu sprechen zu beginnen ist nie ganz ungefährlich. Emily Dickinson schrieb: »A word is dead/ When it is said,/ Some say./ I say it just/ Begins to live/ That day.«3

Ähnlich wie das Leben, das aus diesem Schub der Geburt entspringt, entsteht das Operationsfeld4 der Psychoanalyse auch aus einem Sprung: dem Sprechen, durch das die Wörter zu leben anfangen.

Das Beginnen und der Neubeginn, die »vom Leben« ausgehen, wirken anders als das Sein-zum-Tode. Während das Letztere das unbegrenzte Mögliche in einer endlichen Totalität begrenzt und abschließt, anerkennt das Neubeginnen die Endlichkeit und führt dennoch eine andere Begrenzung ein. Mit dem Leben zu beginnen unterbricht den Drang der Ganzheit, sich selbst abzuschließen, weil es sich auf das stützt, was sich nicht ganz sagen lässt und die Erfüllung des Sinns aufschiebt. Der Sinn wird für einen Moment suspendiert, aufgelöst, aufgedröselt. Diejenige, die spricht, geht der Freiheit nach, mit der die Assoziationen auseinander entspringen, und geht das Risiko ein, dabei den Faden zu verlieren.

»Ich verstehe nicht.« An dieser Äußerung bemerkt man in der Analyse oft die Desorientierung, die wie ein Nebel aufsteigt, wenn das Unbewusste das vom Bewusstsein gewebte Sinnnetz durchbricht. Analytikerin und Analysantin setzen auf dieses »Ich verstehe nicht«, auf die Lücke, die entsteht, wenn die Intentionalität des Bewusstseins, die Gerichtetheit der Bewusstseinsakte auf die Sinngebung, suspendiert wird. Diese Lücke kündigt sich manchmal als Unsinn, manchmal als Schwachsinn, manchmal als eine unbedeutende Bemerkung an. Ein winziges Detail drängt sich in den Diskurs, dessen Grundmelodie das wiederholt, was man zu wissen glaubt. Die Analytikerin wettet gerade auf diesen »falschen Ton«, der es erlaubt, die vertraute, sich wiederholende Melodie zu verlassen, sie hält diese Lücke für die Analysantin auf und lenkt so die Aufmerksamkeit auf einen kommenden Sinn, dessen Kommen jedoch nicht garantiert ist. Vom Leben auszugehen, heißt also auch zuzulassen, dass der Sinn entweicht: sich auf das Nicht-Verstehen und die daraus resultierende Zerbrechlichkeit verlassen; orientierungslos auf eine Wahrheit setzen, die nicht durch Wissen legitimiert werden kann.5

Das analytische Zuhören ist darauf ausgerichtet, offen, gespannt, lebendig zu bleiben, wachsam für die Kluft zwischen der Wahrheit und der strukturellen Unmöglichkeit, sie zu legitimieren, sie mit Wissen zu sättigen. Zuhören – wie Theodor Reik sagte, mit dem dritten Ohr – bedeutet, das Entstehen jenes Raumes und jener Zeit zu schützen, in denen für die Analysantin die Lücke zwischen der Wahrheit und dem Wissen hergestellt werden kann.

Die Weitergabe einer solchen Praxis des Zuhörens, die darauf ausgerichtet ist, die Lücke zwischen der Wahrheit und dem Wissen eines jeden Subjekts zum Klingen zu bringen, bedarf des sozialen Bands einer Schule (oder eines Kollegs, eines Instituts), das es der werdenden Analytikerin ermöglicht, sich in dieser Lücke zu halten, diese offen zu halten. Ihr muss ermöglicht werden, sich auf das zu stützen, was ihre analytische Arbeit zum Vorschein gebracht hat: Einen nicht assimilierbaren Rest des Realen, der weiterhin anregt und bedroht. Eine Analytikerin kann nicht umhin, sich von ihm »täuschen« zu lassen.6

Beim analytischen Akt, den Lacan als Übergang von der Analysantin zur Position der Analytikerin hervorhebt, geht es um die Lücke, um den Hiatus zwischen der Wahrheit und dem Wissen des Subjekts. Es geht darum, sie offen zu halten, den Rest des Realen, den die eigene Analyse hervorgebracht hat, weiter wirken zu lassen. Wie sonst könnte die Übertragung das In-Akt-Setzen (mise en acte) der Realität des Unbewussten ermöglichen?

Im Seminar von 1967/68 spricht Lacan von der »Dimension des revolutionären Aktes«, die seine Darlegung der Struktur des analytischen Aktes »evoziert«.7 Dies tut er mit unterschiedlichen Anspielungen, vom Mondzyklus bis zu der Erwähnung politischer Ereignisse, die sich in die Geschichte als Wendepunkte eingeschrieben haben – Julius Cäsars Überschreitung des Rubikon zum Beispiel oder Lenins Machtergreifung. Diese Evokation suggeriert nicht unmittelbar eine Gleichheit zwischen analytischem und revolutionärem Akt, dennoch werden die Spannungsverhältnisse zwischen ihnen deutlich. Wo findet der Beginn »eines neuen Begehrens«8 statt, das innerhalb einer zyklischen Temporalität entsteht? In den Bahnen des Mondes, sagt Lacan, ist das Ende einer Umlaufbahn bzw. eines Revolutionszyklus‘ und der Anfang eines neuen miteinander verbunden. Die Entstehung des Neumonds ist deutlich bestimmbar als Verschwinden und Wiederkehr des Mondes. Für alle anderen zeitlichen Zyklen, in die wir eingelassen sind, ist aber ein Beginn nicht eindeutig zu bestimmen. In der Geschichtsschreibung sehen wir, dass Epochen unterschiedlich dimensioniert werden. Die von Lacan erwähnte »Dimension des revolutionären Aktes« hebt zunächst eine zyklische Dimension der Zeit hervor, das heißt eine Drehung, eine Wiederkehr, eine Erneuerung, ein neuer Beginn von etwas, das zwischen dem Ende der Analyse und dem Anfang des Begehrens der Analytikerin liegt. Was dieser Revolution unterworfen wird, ist das sujet supposé savoir. Am Ende der Analyse lässt seine Destitution seinen Platz und seine Funktion sichtbar werden, indem diese von der leiblichen Präsenz der Analytikerin, die durch ihre Akte dem sujet supposé savoir gewährt hat zu operieren, entkoppelt werden. Die Entstehung des Begehrens der Analytikerin zeugt aber von der Bereitschaft, das sujet supposé savoir wiedereinzusetzen. Es ist eine Bereitschaft, ein Versprechen, als ein Hebel um das sujet supposé savoir eines anderen tätig werden zu lassen. Aber was ist das genau, was es erlaubt, dass das sujet supposé savoir zwischen dem Ende der Analyse und dem Beginn des Begehrens der Analytikerin diese Revolution erfährt? Ich glaube, dass die Schwierigkeit der Antwort auf diese Frage darin liegt, dass dieses wiederkehrende Element, das erlaubt, die Funktion des sujet supposé savoir für andere zu aktivieren, den Rest des Realen, das Residuum betrifft, das genau die Destitution des sujet supposé savoir am Ende der eigenen Analyse produziert hat. Von diesem Rest des Realen kann diejenige, die als Analytikerin das sujet supposé savoir für andere operieren lassen wird, nichts wissen, insofern dieser Rest des Realen nicht zum Gegenstand eines Wissens werden kann, aber genau dieser Rest muss doch in die Struktur des Begehrens der Analytikerin einbezogen werden. Diesen Rest des Realen, dieses Nichtwissenkönnen, muss die Analytikerin (er)tragen können. Mit dem eigenen Rest des Realen muss das unterrichtete Begehren der Analytikerin etwas machen können. Das savoir faire der Analytikerin besteht auch darin, die Funktion, die dem Realen in der Struktur des Begehrens zusteht, gewähren lassen. Ohne das Nichtwissen zu ertragen, kann die Funktion des sujet supposé savoir für die kommenden Analysen kaum aktiviert werden. Das heißt, dass Wahrheit und Wissen in der Struktur des Begehrens nie zusammenfallen und noch weniger in der Struktur des Begehrens der Analytikerin, denn die Wahrheit enthält von diesem Rest des Realen etwas, das nicht zum Gegenstand eines Wissens wird. Dieses Nichtwissen muss die Analytikerin ertragen können. Sie muss gewähren, dass das Reale in ihren Akten einbezogen wird, um begehren zu können, von dem unbewussten Begehren der Analysantin etwas mehr zu erfahren. Die Revolution betrifft daher auch die zyklische Wiederkehr des Realen, das mit dem Beginn des Begehrens der Analytikerin gar nicht verschwindet. Im Gegenteil, durch die Revolution, die dem sujet supposé savoir widerfährt, findet eine Bewahrung seines Platzes, seiner Funktion, statt.

Diese revolutionäre Dimension des analytischen Aktes wird von Lacan auch bezüglich der Bestimmung des Anfangs evoziert und dabei mit dem Überqueren des Rubikon oder mit Lenins Machtergreifung verglichen.9 Also mit Akten, die ein Vorher und Nachher in Differenz setzen, die den Beginn einer neuen Epoche aus der Impasse der vorherigen ermöglichen. Alain Badiou spitzt das etwas anders zu und schreibt, dass die Analyse, gerade weil sie darauf abzielt, eine Situation der Blockade aufzulösen, die unausgesprochenen oder unterdrückten Möglichkeiten des Lebens freizusetzen, in »Kontinuität« mit einer revolutionären Praxis steht, »die eine kollektive innere Bereitschaft wieder öffnet, die tief in der Wiederholung vergraben war oder durch die staatliche Repression versperrt wurde«.10 Ich glaube, dasselbe gilt auch für den analytischen Akt des Übergangs zu der Position der Analytikerin, denn dieser signalisiert eine »innere Bereitschaft« für das Begehren der Analytikerin. Badiou folgert aus der so behaupteten Kontinuität zwischen Analyse und revolutionärer Praxis, dass der analytische Akt, wenn auch an sich unpolitisch, dem Denken »eine Art politische[r] Matrix bietet«.11 Wenn es vor allem die Effekte des analytischen Aktes sind, die deutlich als politische anerkannt werden, indem sich die Auswirkungen des neuen Begehrens im sozialen Band niederschlagen, frage ich mich, ob der analytische Akt eine »Art politische Matrix« auch in einem anderen Sinn bietet. Es würde so eine politische Dimension der Psychoanalyse zugespitzt, die ich gerade nicht besser denn ontologisch kennzeichnen kann. Diese These verlangt sicher nach einer eingehenderen Diskussion; es ist eine gewagte These, aber nach der Aufdeckung der Abwesenheit jedweden ontologischen Fundaments,12 auf dem die moderne Demokratie gründen könnte, liegt es nahe, dem ethischen Statut des Unbewussten eine politisch-ontologische Tragweite zuzugestehen. In der Analyse sind Analytikerin und Analysantin Zeugen der Manifestation des Unbewussten als etwas, das dem Register des »Nichtrealisierten« zugehört. Die Analyse wagt sich in das »Reich der Larven«, das – wie Lacan betont – nie ungefährlich ist.13 Zweifellos ist diese Zone, aus der etwas Neues entstehen kann, eine Zone des Konflikts, und zweifellos stellen Konflikte die Matrix jedes transformativen Prozesses dar. Die Konflikte, die sich im Unbewussten absetzen, können bereits als politisch gekennzeichnet werden. Sie betreffen die Machtverhältnisse zwischen Phasen, Stadien und Strukturen; diejenigen, die unter den realisierten als nicht realisierte liegen, werden nicht eliminiert, sondern bleiben latent oder lauernd, etwas Neues kann daraus entstehen – oder auch nicht. Ähnlich wie bei den Schicksalen der mündlichen Kulturen, die in der Entwicklung der Menschheit unterworfen wurden, sind zum Beispiel heute die Machverhältnisse zwischen den Phasen, Stadien und Strukturen des Unbewussten von der epochalen Wandlung der künstlichen Intelligenz betroffen, und deren Schicksal ist noch nicht entschieden.

Im analytischen Akt, durch den eine Analytikerin sich – durch sich und manche andere – autorisiert, zeigt sich diese politisch-ontologische Dimension der Psychoanalyse wahrscheinlich noch deutlicher. Der Aspekt der Zeitlichkeit ist hier entscheidend. Der analytische Akt wettet auf die Manifestation des Begehrens der Analytikerin, das sich nachträglich zeigen wird. Es bleibt nicht garantiert, ob das Begehren der Analytikerin erlauben wird, dass Psychoanalyse stattfindet. Es ist eine besondere Dimension der Zeitlichkeit, die somit wirksam wird, nämlich die des Futurs II. Hat dies nicht an sich etwas von einer politischen Dimension? Eine minimale vielleicht, aber nicht unbedeutende. In dem Sinne, dass diese Zeitlichkeit das Tempo der Organisation, des Entwurfs, der Strategie, des Plans freisetzt14 und sich darauf verlässt, dass die Zeit selbst auch für die Reifung des Lebens gearbeitet haben wird, genau wie in der Schwangerschaft, und nicht nur für das Sterben und den Tod. Ist das nicht genau das Tempo, das vom Leben ausgeht und die Zeitlichkeit einführt, um in der Gegenwart zu sein?

Die Anwesenheit der Analytikerin wäre so betrachtet eine Art Zeitportal…

Wieder zum Leben geboren zu werden, heißt dann auch, sich von dieser Zeitlichkeit treiben lassen, die, fern davon die Todestriebe zu ignorieren, ihre anarchischen Potentiale aufdeckt, und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Denn aus ihnen kann eine Kraft entspringen, die uns hilft, uns von dem starren Schicksal zu emanzipieren, das uns manchmal von der Geburt, dem Ursprung, der Arché zugewiesen scheint.15 In Seminar XV insistiert Lacan auf dem Geburtsakt der Psychoanalyse, einer Geburt, die jeder analytische Akt aufgreift und wieder in Gang setzt. Die Psychoanalyse wurde nicht, wie Lacan betont, mit der Entdeckung des Unbewussten geboren, sondern mit der Frage »Wer wusste es, das Feld der Psychoanalyse?«16 Wer wusste es, und nicht was ist das Unbewusste. Genau die Frage »Qui le savait?« wird reaktiviert, wenn man zur Position der Analytikerin übergeht, denn es geht darum, jene Zeitlichkeit wirken zu lassen, die erlaubt, das Subjekt des unbewussten Wissens, das sujet supposé savoir, zu verantworten. Die Nachträglichkeit, also das Futur II, ermöglicht, dass das Subjekt für sein unbewusstes Begehren Verantwortung übernehmen kann.

Der Übergang von Analysantin zu Analytikerin ist notwendigerweise gewagt. Wenn die Entscheidung, diesen Schritt zu vollziehen, zunächst aus dem Begehren, Analytikerin zu werden,17 hervorgeht, ist damit noch nicht gesagt, dass das Begehren der Analytikerin daraus entstehen wird. Der Schritt des analytischen Aktes kann nicht ganz bewusst vollgezogen werden. Es handelt sich um einen synkopierten Schritt, der trotz kurzzeitigem Verlust des Bewusstseins vollzogen, gewagt wird. Ähnlich vielleicht jener Art des Hinkens, von dem Freud in Jenseits des Lustprinzips schrieb. Das komplizierte Verfahren der passe scheint dafür gedacht, das Hinken ohne ein standardisiertes Prozedere im Sprechen in Szene zu setzen. Diejenigen, die wissen wollen, was sich über die eigene Psychoanalyse mit anderen zusammen sagen und damit vergesellschaften lässt, können die passe durchlaufen. Durch eine solche Zeugenschaft wird etwas zur Weitergabe der Psychoanalyse beigetragen. Lacans Erfindung der passe scheint der eigenartigen Zeitlichkeit des Futur II Rechnung tragen zu wollen. Sie operiert zeitlich in mehreren Momenten (demande de passe, tirage à sorte des passeurs, rencontre entre passeurs et passant, témoignage des passeurs devant le cartel de passe), sowie hinsichtlich der Adressierung mit mehreren Orten (secrétaire de passe, passeurs, cartel, jury) und nicht ohne eine gute Portion Zufall. So werden die jeweiligen singulären Wege zum Analysieren nicht geebnet, sondern innerhalb des Dispositivs, das sie organisiert, gleichsam wiedergeben. Auf diese Weise wird mit der potentialen Verbindlichkeit des Futur II verhindert, dass das Subjekt des Unbewussten, und das Reale, das an ihm haftet, vom Subjekt der Erkenntnis vereinnahmt wird.

Die analytische Arbeit wettet auf das Reale, das Bedrohliche, das Anregende, das Skandalöse und erschreckenderweise Lebendige, das mit Worten unfassbar bleibt und sie doch ins Leben bringt, das abstößt und anzieht, das fremd und anders bleibt. Sie bezeugt ein unbewusstes Wissen, und legt es darauf an, das Reale im savoir faire nicht auszugrenzen, auszuradieren, oder zu diskriminieren, aber auch nicht zu ritualisieren. Es wird als nicht handhabbar, als Unmögliches bewahrt, als Grenze unseres Herrschafts-Deliriums.

Anmerkungen

1

Jacques Lacan, Das Sinthom. Das Seminar XXIII, hg. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Myriam Mitelman u. Harold Diehlmann, Wien 2017, Turia + Kant, 47.

2

Anne Dufourmantelle, Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse, übers. v. Nicola Denis, Berlin 2018, Aufbau, 27–28.

3

Emily Dickinson, Silenzi, übers. v. Barbara Lanati, Milano 1996, Feltrinelli, 155.

4

Ich verweise auf den Artikel von Bernhard Schwaiger in dieser Nummer.

5

Bruno Moroncini, Saggio sull’indifferenza in materia di politica. Freud, Lacan e la politica dell’inconscio, in Bruno Moroncini, Felice Ciro Papparo, Diffrazioni (due). La psicoanalisi tra Kultur e civilizzazione, Napoli 2018, Federico II University Press, 60.

6

Vgl. Jacques Alain Miller, L’inconscient et le corps parlant, in La cause du désir, 88 (2014), 103–114: 113-114 <https://doi.org/10.3917/lcdd.088.0103>.

7

Jacques Lacan, L’acte psychanalytique. Le séminaire XV, hg. v. Jacques-Alain Miller, Paris 2024, Seuil, 93 [meine Übersetzung, C.C.].

8

Ebd.

9

Ebd., 92.

10

Alain Badiou, Élisabeth Roudinesco, Jacques Lacan. Gestern, heute, Dialog, übers. v. Thomas Wäckerle, Wien 2013, Turia + Kant, 36.

11

Ebd.

12

Vgl. dazu Davide Tarizzo, Political Grammars: The Unconscious Foundations of Modern Democracy, Stanford, CA 2021, Stanford University Press.

13

Jacques Lacan, Die Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar XI, hg. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Norbert Haas, Wien 2015, Turia + Kant, 29.

14

»Strategie«, »Taktik« gehören zu Lacans Vokabular, siehe Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (übers. v. Norbert Haas, in Lacan, Schriften 1, hg. v. Norbert Haas, Olten 1973, Walter, 171–239) und auch L’acte psychanalytique, 92.

15

Ich beziehe mich hier auf den Begriff pulsion anarchique von Nathalie Zaltzman, mit der sie die Todestriebe hervorhebt, die dem Leben nützlich sind. Vgl. Nathalie Zaltzman, De la guérison psychanalytique, Paris 1998, PUF, 115.

16

»Qui le savait, le champ de la psychoanalyse? […] Il n’est pas question de contester que la réalité est antérieure à la connaissance. La réalité, oui – mais le savoir? Le savoir, ce n’est pas la connaissance«, Lacan, L’acte psychanalytique, 18.

17

Ich beziehe mich hier auf den Vortrag von Elisabeth Leypold, Eine eigene Passage zum Analytiker, gehalten auf der Tagung der Psychoanalytische Bibliothek im September 2023, unveröffentlicht.