RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 250255 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.47).
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Der Realwert

La valeur de réel

The Real-Value

Mai Wegener

Gedanken zu dem, was Analytiker gewähren und auch gewährleisten müssen und zu dem, was sich der Gewähr entzieht - insbesondere im Verhältnis der Sprache und des Sprechens zur Realität.

Pensées sur ce que les analystes doivent garantir et aussi assurer et sur ce qui échappe à la garantie - en particulier dans le rapport du langage et de la parole au réalité.

Thoughts on what analysts must grant and also guarantee and on what cannot be guaranteed - especially in the relation of language and speech to reality.

Schaum der Nacht

»Träume sind Schäume«, sagt er und freut sich über den Reim und mehr noch, mit diesen Worten der Macht des Traums entronnen zu sein; zu Schaum zu erklären, was ihn letzte Nacht in seinen Bann geschlagen hatte: jener Traum, der sich »wie der Pilz aus seinem Mycelium«1 aus seinen Gedankengängen erhoben hatte. »Schäume sind Träume«, gebe ich, etwas lustlos, zurück. Irgendwie muss die Schaumschlägerei aufgehalten werden, denke ich. Schweigen. »Schaumgeborene«, sagt er dann und plötzlich steht eine nackte Frau im Raum – gemacht aus Worten. Der Schreck vom Traum ist wieder da. »Oh je«, sagt er nur. Aber immerhin, das Objekt seiner Angst ist wiedergekehrt, jetzt mit einem gewissen Glanz versehen, in griechische Mythologie – Aphrodite, die Schaumgeborene – gehoben. Der Schaum gab dem Schrecken Kontur. Eigentümlichkeit der Worte, unverhoffte Wendung.

Freud träumt, er gehe auf sumpfigem Boden. »Der Boden war sumpfig, wir gingen am Rand hin«2, heißt es im Traum von der Präparation am eigenen Leib, der – getreu des Vergleichs der Analyse mit einem chirurgischen Eingriff – Freuds Erfahrung der Psychoanalyse artikuliert. Ja, der Boden ist inkonsistent, feucht. Man kann ausrutschen, entgleiten, auch versinken.

Deswegen gibt es nicht nur die Unvermeidlichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Übertragung. Es braucht einen Anderen, den Sprechfaden zu halten. Und in diesem Sprechen gibt es, in welcher Form auch immer, den Auftrag: »Seien Sie still! — Reden Sie nichts! — Rühren Sie mich nicht an!«3 So hat es eine der ersten Patientinnen Freuds, Emmy von N., gesagt. Ihre Worte, die ich hier als Aufforderung lese, der Übertragung Stand zu halten und Raum zu geben, möchte ich so ausbauen: Halten Sie die Klappe, halten Sie den Rand, d.h. das Loch auf, aus dem meine Rede ergeht. Sorgen Sie dafür, dass ich mich fallen lassen kann, dass ich mich der Sprache und dem Sprechen überlassen kann. Wissen Sie! Halten Sie … (mich). Lassen Sie … mich … (los).

Die Grundregel – Sagen Sie, was Ihnen durch den Sinn geht, lassen Sie nichts aus, auch wenn es Ihnen peinlich oder belanglos erscheint – hat, jetzt zur Seite des Analysanden hin gesprochen, ebenfalls das Ziel, das Sprechen und die Übertragung sich entfalten zu lassen. Auf die folgende Passage von Novalis bin ich durch Barbara Cassins Arbeiten aufmerksam geworden. Sie könnte der Grundregel als Motto und Motor zugesellt werden.

Es ist eigentlich um das Sprechen und Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß, daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas Bestimmtem sprechen so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste und verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der Haß, den so manche ernsthaften Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Muthwillen, merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen die unendlich ernsthafte Seite der Sprache ist.4

Mit dieser unendlich ernsthaften Seite der Sprache bekommt zu tun, wer sich auf eine Analyse einlässt, ein Analysand ebenso wie eine Analytikerin.

Rand des Realen

Analytiker haben in ihrem Feld durchaus etwas zu garantieren – nicht nur zu gewähren, sondern zu gewährleisten. Sie haben dafür einzustehen, dass Analyse stattfinden kann. Sie haben diesen Raum offenzuhalten und um seine Eigentümlichkeiten zu wissen. Dafür stehen sie in einer Tradierung, in einem Netz von schriftlich und mündlich übermitteltem Wissen, von Savoir-faire auch. Dafür haben Sie eine Analyse gemacht. Ihre Insistenz ist gefragt, diesen Raum und »Anderen Schauplatz« immer wieder neu zu öffnen. Hier gibt es kein »ohne Gewähr« und auch kein Abtreten der Gewährleistung an Andere. Keine Institution, kein erworbenes Diplom, nicht mal ein Freund kann mir das abnehmen. Hier gibt es eine Einsamkeit in der Verantwortung, der jede(r) alleine ausgesetzt ist, weil in jenen Momenten einer Analyse, in denen es drauf ankommt, niemand zu Rate gezogen werden kann. Da gilt es Geistesgegenwart zu beweisen – was in der Analyse etwa heißen kann, einen Gedankengang zu ergreifen, der dem Unbewussten überlassen war (wie bei der Witzbildung5), im Kontakt zu sein mit dem, was ich hier den Rand nenne. Rand des Sprechens, Rand des Körpers, Rand der Angst auch.

Dass etwas in der Analyse »ohne Gewähr« bleibt, kommt mit dem »Muthwillen« der Sprache ins Spiel, mit der Tatsache, dass wir ihrer nicht mächtig sind, uns vielmehr von ihr tragen lassen müssen, ohne sie zu beherrschen und ohne in ihr aufzugehen. Dass in der Psychoanalyse vom Sprachnetz ausgegangen wird und nicht von der Realität, ist ganz und gar grundsätzlich. Analytiker betreiben keine Recherche außerhalb der Kur, um herauszufinden, wie es wirklich war. Aber dieser Ausgangspunkt hat das Potential, Irritation auszulösen und Widerstand hervorzurufen. Auf Gedeih und Verderb dem Signifikanten ausgeliefert zu sein – und darum zu wissen –, das ist nicht jedermanns Sache. Wir sind nicht dafür gemacht, uns tagtäglich zu vergegenwärtigen, dass »alle Wahrheit Fiktionsstruktur hat«. So hat Lacan es formuliert.6 Wir arbeiten in der Analyse den inneren Gesetzen einer Struktur folgend (des psychischen Apparates hätte Freud gesagt), in der auf komplexe und immer prekäre Weise Realität allererst konstituiert wird. Diese Bewegung ist der gewohnten gegenläufig, weshalb Freud sagen konnte: »In Wahrheit gibt es für den Menschen nichts, wozu ihn seine Organisation weniger befähigen würde als die Beschäftigung mit der Psychoanalyse.«7 Wir haben nichts anderes, um das Reale einzukreisen, um das es in einer Psychoanalyse geht.

Küsse, Bisse

Wenn ein Dichter sagt, »Es war als hätt‘ der Himmel die Erde still geküsst«8, dann fragt in der Regel keiner, wo Himmel und Erde ihren Mund haben. Der Kuss ist dann da und entfaltet seine poetische Wirkung. Das Wörtchen »still« hält die Wege dieser Wirkung in gewissen Grenzen, es sorgt dafür, dass es nicht zu laut, nicht zu heftig wird.

Wenn ein anderer Dichter seine Figur sagen lässt »Küsse, Bisse, das reimt sich.«9, dann ist der Mund da, mitsamt der Zähne.

Wenn eine oder einer in der Analyse sagt, »Mein Vater hat mich immer so merkwürdig geküsst«, dann steht die Frage im Raum: Was ist da gewesen?

Was heißt es, jemanden beim Wort nehmen?

»Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist.«10 Aus dieser Antwort folgt, dass es anzuerkennen gilt, »dass es im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht gibt«11 und man folglich, Freud geht weit, »die Wahrheit und die mit Affekt besetzte Fiktion nicht unterscheiden kann«. Das heißt keineswegs, dass die Frage, was wirklich geschehen ist, ohne Bedeutung wäre. Sie insistiert. Aber es heißt, dass eine Perspektive, die sich nur darum kümmerte, niemals das Begehren des Subjekts zum Sprechen bringen könnte.

»Ich gestehe dafür etwas anderes ein«, schreibt Freud in der Fallgeschichte des Wolfsmanns nach langen Mühen um die Rekonstruktion jener Szene, die er die Urszene genannt hat, »Ich gestehe [also] ein, daß ich die Absicht habe, die Diskussion über den Realwert der Urszene diesmal mit einem non liquet zu beschließen.«12

Anmerkungen

1

Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, II: Die Traumdeutung, 1940, 530.

2

Ebd., 455.

3

Sigmund Freud, Studien über Hysterie, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, I, 1952, 99–162, 100.

4

Novalis, Monolog, in Schriften, Bd. 2, Das philosophische Werk, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, 672. Zitiert aus der Zitat-Sammlung von Barbara Cassin, mit der sich, nachdem wir diese im RISS 88 publiziert hatten, ein Cartel befasst hat, dessen Ergebnisse gemeinsam mit der Zitat-Sammlung publiziert ist in: Kunst des Entkummerns. Ein Florilegium von Barbara Cassin mit Kommentaren, RISS+ 06, Hamburg 2022, Textem, 12.

5

Vgl. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, IV, 1941, 189.

6

An vielen Stellen, unter anderem in Jacques Lacan, Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, Übers. von Norbert Haas, Weinheim, Berlin 1996, Quadriga, 20, wo es auch heißt: »Das Fiktive freilich ist seinem Wesen nach nicht, was Täuschung wäre, sondern eigentlich gesprochen, was wir das Symbolische nennen.«

7

Sigmund Freud & Ludwig Binswanger, Briefwechsel 1908–1938. hg. v. G. Fichtner, Frankfurt am Main 1992, S. Fischer, 80. Brief Freuds vom 28.5.1911.

8

Dies die ersten beiden Zeilen aus Joseph v. Eichendorffs Gedicht Mondnacht.

9

Heinrich v. Kleist, Penthesilea. Ein Trauerspiel, in: Sämtliche Werke, hg. v. Paul Stapf, München/Wiesbaden 1964, Deutsche Buch-Gemeinschaft, 407–506, 503.

10

Sigmund Freud, Formulierung über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, VIII, 1943, 229–238, 238 .

11

Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, Hg.: J. M. Masson, unter Mitarb. von M. Schröter, Transkription: G. Fichtner, Frankfurt a. M. 1986, Fischer, 284, Brief Freuds vom 21. September 1897.

12

Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, XII. 1947, 27–158, 90.