Anziehung, Neugierde, Widerstand. Jahrelang näherte ich mich der Psychoanalyse lesend. Akkumuliertes Wissen, Geldmangel, das Leben im Ausland waren Gründe genug, keine Analyse zu machen. Die Selbstüberschätzung, dass Selbstreflexion die Analyse ersetzen könne, sicherte die Vermeidung zusätzlich ab. Wer sollte besser über »mein Unbewusstes« Bescheid wissen können als »ich«? Die »Herrin« wollte mit ihren erworbenen Kenntnissen im »eigenen Haus« herrschen. Diese Illusion war – ist – beharrlich; und die Heilsversprechen der Ego Psychology, aber auch der orientalischen Techniken sind auf verlockende Weise wohltuend.
Aber es krachte immer wieder. Trotzdem. Oder deswegen.
Immer noch akkumulierte sich Wissen, immer noch mangelte es an Geld, immer noch lebte ich umgeben von Fremdsprache. Aber »mit meinem Latein war ich am Ende«. »Dann lern’ Etruskisch«, war die Antwort meiner Analytikerin. Da war ich schon mitten in der Analyse.
Dass ich schließlich doch zur Analysantin wurde, verdankte sich keiner vernünftigen Entscheidung. Die vernünftigen Gründe waren es, die mich jahrelang davon abgehalten hatten. War der Schritt in die Analyse deswegen unvernünftig? Vielleicht im un-vernünftigen Sinne. Durch die kleine Lücke des un hindurch – diese Weichstelle im Räsonieren und Abwägen – schien die Not angesichts von Antwortlosigkeiten – trotz allen Wissens und Reflektierens – ein Schlupfloch gefunden zu haben. Ein Nadelöhr. Sie wurde nun gehört, durch das Ohr der Analytikerin hindurch anders hörbar.
Der Anfang der Analyse: ein Paukenschlag. Das Erstgespräch fand mitten im italienischen Hochsommer statt, wenn die Hitze die Menschen in einen dösenden Zustand versetzt und alles Denken und Sprechen langsam und träge wird. Gleich am darauffolgenden Morgen, sehr früh, es war ein Samstag, lag ich auf der Couch. Wo anfangen mit dem Erzählen und Assoziieren? Schnell fiel die Sorge um Ordnung und Chronologie weg. Der Gestus des Reflektierens – Hyperreflektierens – wurde umso stärker. Intelligenz und Belesenheit zur Schau stellen, »bella figura« machen. So kam ich zu Platons Gastmahl und referierte aus der Erinnerung den Mythos vom Kugelmenschen, wurde vom Sog der symbiotischen Vereinigungsphantasie erfasst ...
»Bis sie verhungerten und verdursteten...«
Ich erschrak, und verwirrt angesichts dieser Intervention widersprach ich stammelnd.
»Venga!« – das war das Wort, die Formel, mit der die Analytikerin die Sitzung beendete.
Zuhause suchte ich sofort nach der Platon-Ausgabe, sie stand auf dem obersten Regalbrett. Als ich den Band greifen wollte, rutschte er mir aus der Hand, fiel mir auf den Kopf, ritzte mit seinem harten Buchrücken eine kleine Wunde ins Kinn. Buchstäblich nun vor den Kopf gestoßen schlug ich das Buch auf und las ... ich las, was ich bis dahin nicht hatte realisieren wollen, in Schleiermachers Übersetzung:
Nachdem nun die Gestalt entzweigeschnitten war, sehnte sich jedes nach seiner andern Hälfte, und so kamen sie zusammen, umfaßten sich mit den Armen und schlangen sich ineinander, und über dem Begehren, zusammenzuwachsen, starben sie aus Hunger und sonstiger Fahrlässigkeit, weil sie nichts getrennt voneinander tun wollten. 1
Ein donnernder Anfang. Zeus’ Zorn über die Hybris der Menschen hatte meinen Körper geschlagen und eine Risswunde gelassen! Es war mein »Rendez-vous mit dem Realen, zu dem wir stets gerufen sind, das sich jedoch entzieht«.2
Phantasie entzweit. Der Schnitt brachte etwas in Gang. Vielleicht den langsamen Abschied von einer zähen unbewussten Phantasie. Die Analyse zeigte nicht den Weg, sie war der Weg. Auf dem Weg kam auch genug Geld, um die Analyse zu bezahlen, um weder zu verhungern noch zu verdursten. Als ich später triumphierend meinte, dass mich dieser Weg ins Schlaraffenland geführt hätte, musste ich – noch später – bemerken, dass ich wieder an einer Kugel klammerte. Die Analyse war keine Garantie, kein Schutz dagegen gewesen.
Auf-bruch, immer wieder neu. Abschied nehmen. Trauerarbeit. Rätselhaft bleibt, wie das geht. Lacan schreibt:
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß das Reale am Ursprung der analytischen Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt – in Form des Traumas, das für den weiteren Verlauf bestimmend wird – und daß somit diese analytische Erfahrung einen durchaus akzidentellen Ursprung hat! Wir befinden uns da im Zentrum von etwas, woran wir die radikale Bedeutung des Konflikts ermessen können, der durch den Gegensatz von Lustprinzip und Realitätsprinzip eingeführt ist – was allerdings nicht bedeutet, daß das Realitätsprinzip durch seine Überlegenheit auch schon das letzte Wort hätte.3
Es ist selten, dass Lacan Ausrufezeichen setzt. Beim Zufall tut er es. Der Zufall darf laut werden. Er zählt, ohne zu bedeuten. Er schlägt Wunden. Auch wenn der Begriff des Zufalls – tyche – von Aristoteles kommt, wurde mir der auf den Kopf gefallene Platon zum Wahr-zeichen der Analyse. Die Wiederholungen – kreisen, suchen, fehlen, verfehlen, sich verrennen, sich täuschen und enttäuscht werden, festhalten, verknoten, wieder lösen – blieben und bleiben nicht erspart. Analyse ist keine Fortschrittserfahrung. Etwas geht immer erst los, wenn von beharrlichen Vorstellungen Abstand gewonnen wird. Im »Zauderrhythmus« des Lebens, wie es bei Freud heißt,4 sind die lakonischen – nie urteilenden, nur sehr selten Ratschlag gebenden, keinesfalls bevormundenden, nie gleichgültigen – Interventionen der beiden Analytikerinnen, die mich vierzehn Jahre begleitet haben, erst auf Italienisch, dann auf Deutsch, von unschätzbarem Wert gewesen. Ihre Sprachstupser brachten meine Selbsterklärungen zu Fall und öffneten andere Bahnungen. Momente des Auflachens, Klaffens, in denen Schrecken, Erkennen, Vergnügen in eins fielen, bleiben die stärksten Eindrücke des analytischen Parcours. Der Nebel des Imaginären lichtete sich für Augenblicke, nichts wurde erkennbar, als etwas andersartig Lebendiges.
Der Moment des Schließens der Analyse (etwas anderes als das Ende) ereignete sich abermals »unter dem coup des Aufwachens, [...] knocked«.5 Diesmal wurde ich jäh aus dem Schlaf einer sich ins Unendliche neigenden Analyse gerissen, einer Analyse, in der sich die Analysantin in eine couch potato verwandelt hatte. »Ich« hatte es nicht bemerkt.
Es kam so:
Die Analysestunde hatte jahrelang denselben – gemeinsam vereinbarten – Preis. Der coup, der mich aus dem Schlaf riss, bestand diesmal in der Ankündigung, dass »im nächsten Quartal« eine Erhöhung anstünde. Damit kam nicht nur die Geldfrage wieder auf, sondern eine andere Zeitrechnung brach ein. Das Wort »Quartal« traf heftig. Es war eine Kränkung meiner »freien Analyse«, eine »Profanierung« dieses Raums, der inzwischen mythisch-zeitlose Dimensionen angenommen hatte. Es war auch die plötzliche Konfrontation mit der anderen Seite der Analyse: der Realität der Abrechnungsmodalitäten, denen auch ein nicht kassenärztlich zugelassener Analytiker untersteht; der Realität der Inflation, der Analytiker genauso ausgesetzt sind wie jeder normalsterbliche Bürger.
Die Analyse erfuhr durch den Einfall dieses Signifikanten ihre Schließung. Die anfängliche Kränkung konnte transformiert werden. Mein Widerstand gegen die Quartals-Zählung beschleunigte Entscheidungen, mit denen ich zu lange gehadert hatte und die schon allzu viel Analyse-Zeit gekostet hatten. Ich buchte endlich meine Zugreise in die Bretagne und plante eine Überfahrt auf die Insel Guernesey im Ärmelkanal, die für Victor Hugo vierzehn Jahre lang Exil war.
Daraufhin folgte noch eine Sitzung, ehe die »Quartalszeit« beginnen und ich Abschied von meiner Analyse und Analytikerin nehmen würde. »Quartal« wurde hörbar als »Qual« – und jetzt da ich’s schreibe, lese ich »Tal«; die Zahl »vier« wurde signifikant, »vierzehn Jahre Analyse« spiegelten sich plötzlich in »vierzehn Jahren Exil« von Victor Hugo. Und in meinen keltischen Reisezielen – post analysis – wurde für einen Moment der Name meiner Analytikerin als Anagramm lesbar.
Der Schluss: Ein Lachen.
*
Namen und Orte: Namen. Ich hielt mein Versprechen, eine Postkarte aus den Landschaften zu schicken, deren Namen mit demjenigen meiner Analytikerin verschlungen waren.
Namen und Orte: Orte. Die Reise verlief anders als erwartet und erhofft. Das Klima war mir unverträglich, ich wurde krank, Guernesey – »gerne sie«, »gerne sei« – blieb unerreichbar. Ich verbrachte die Tage im Teesalon eines Hotels, das direkt an einer Felsküste lag, und versuchte vergeblich, mich wieder mit der Verheißung der Namen zu verbinden. Leidend saß ich hinter der großen Fensterscheibe und blickte stundenlang auf’s offene Meer, das mal stürmisch nah war und dann plötzlich wieder so weit weg, eine große Leere zurücklassend.
Ich hörte nicht auf, wie ein Kind, mich zu fragen wohin sich die riesige Wassermasse immer wieder von Neuem verzog – jeden Tag zweimal. Und wie es sein konnte, dass das Wasser, ohne dass ich sein Ankommen je bemerkt hätte, immer wieder plötzlich da war: drängend und stürmisch.
Wenn man genauer hinsah – dafür musste man den bequemen Sessel verlassen, was ich manchmal tat – wurde durch die Ebbe eine Unterwelt aus Sand und Stein sichtbar, durchsetzt von roten, hell- und dunkelgrünen, braunen und ockerfarbenen Flecken und Büscheln, einem riesigen durchlöcherten lebendigen Algen- und Muschelteppich.
Platon, Das Gastmahl, übers. v. Friedrich Schleiermacher, in Platon, Werke, hg. v. Gunther Eigler, 8 Bde. Darmstadt 1990, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Band III, 209–393 (273 [191a]).
Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI, übers. v. Norbert Haas, Olten 1978, Walter, 59.
Ebd., 61.
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in ders., Studienausgabe, 10 Bde., Frankfurt 1975, Fischer, Band III, 213–272 (250).
Lacan, Die vier Grundbegriffe, 62.