RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 291294 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.52).
Ⓒ Die Urheberrechte liegen bei den Autor*innen. Alle Inhalte, ausgenommen Bilder oder sofern anderweitig angegeben, stehen unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.

Christfried Tögel (Hg.), Urban Zerfaß (Mitarbeit), Sigmund-Freud-Gesamtausgabe in 23 Bänden, Bd. 22 (2 Teilbände): Freud-Diarium (2023) und Bd. 23: Freud-Bibliographie, Register (2024), Gießen, Psychosozial-Verlag

rezensiert von Karl-Josef Pazzini

Critique: Sigmund Freud Gesamtausgabe Band 23

Review: Sigmund Freud Gesamtausgabe Band 23

Karl-Josef Pazzini

In den beiden Teilbänden des Bandes 22 findet sich ein ausführliches Diarium Sigmund Freuds, unterteilt in verschiedene Bereiche: »Verzeichnis der Briefe und Liebeszeichen, die ich von meiner teuren Martha erhalten habe« (Freud), »Unsere Geheim-Chronik« (Freud), eine Honorarliste, Patientenkalender, Reisekalender, ein Kriegskalender und aus dem Jahr 1938/1939 die Liste der eingegangenen und versandten Briefe. Diese sind in Beispielen abgedruckt, da sie anderwärts schon vollständig publiziert sind.

Bemerkenswertes fand ich auf Seite 2 und den dortigen Fußnoten. So heißt es, dass Freud von 1910 bis 1920 insgesamt 18000 Analysestunden gegeben habe. Das entspräche ohne Urlaube, Sonntage und Feiertage knapp 35 Sitzungen pro Woche. – In einer Fußnote merkt Tögel an, dass ab 1895 immer der Begriff Analyse verwendet wird, es werde »nicht zwischen therapeutischer Analyse und Lehranalyse unterschieden, da auch viele der späteren Analytiker nicht sicher waren, wie ihre Behandlung bei Freud einzuordnen« wäre. In Die Frage der Laienanalyse (1927) hatte Freud die Bezeichnung Lehranalyse implizit durch die Verwendung der Bezeichnung Lehranalytiker für diejenigen erfunden,

die die Analyse aus intellektuellen Motiven annehmen, die nebenbei erzielte Erhöhung ihrer Leistungsfähigkeit aber gewiss gerne begrüßen werden. Zur Durchführung dieser Analysen bedarf es einer Anzahl von Analytikern, für die etwaige Kenntnisse in der Medizin besonders geringe Bedeutung haben werden. Aber diese – Lehranalytiker wollen wir sie heißen – müssen eine besonders sorgfältige Ausbildung erfahren haben.1

Die Lehranalyse, die Tögel meint, wurde erst später erfunden, um eine besondere Art von Psychoanalyse zu definieren.2

Die Kriterien, die zur Zusammenstellung des Diariums führen, werden vorab erläutert, da selbstredend trotz umfänglicher Recherchen von Gerhard Fichtner, der sich zunächst auf Ernest Jones bezieht, und Christfried Tögel selbst nicht alles erfasst werden kann, was irgendwo notiert ist – zum Glück. Das wirkt zum Teil skurril (»1864 F. beobachtet seine knapp zweijährige Schwester Dolfi in der Wiege und denkt: ›Jetzt bist Du nicht mehr die Jüngste‹«, S. 43), weist aber auch auf wenig bekannte Initiativen Freuds hin, z.B. auf eine Petition für neue Medien in der Forschung: »1884 Dezember Ende. F. drängt die Sekundärärzte, eine Petition für die Anschaffung von Mikroskopen aufzusetzen« (S. 185). Zu lesen ist, dass Freud Ende Januar 1905 im Zusammenhang mit der Revision des Bürgerlichen Gesetzbuches ein Gutachten zum Eherecht abgibt (S. 455).

Im Teilband 22/2 wird das Diarium fortgesetzt und endet mit der Einäscherung Freuds am 26. September 1939.

Es folgt ein Verzeichnis der Sekundärliteratur zur Herstellung des Diariums, der schon in Gänze gedruckten Tagebücher, Reisebriefe, Kalender, Notizbücher usw., ein umfängliches Orts- und Personenregister und, als Faltblatt eingelegt, ein Stammbaum der Familie Freud.

Der Band 23 ist der Abschluss der Gesamtausgabe als Registerband. Er umfasst die in der SFG enthaltenen Schriften und die entsprechenden Verweise auf die Gesammelten Schriften, die Gesammelten Werke und die Studienausgabe, ferner eine dem Forschungsstand entsprechend nicht vollständige Liste über Auflagenhöhe und Verkauf, die Korrigenda und ein ausführliches Personen- und Sachregister. Das demgegenüber ausführlichere Verzeichnis auch der Briefe Freuds findet sich bei Fichtner und Meyer-Palmedo (1989) und wird von Albrecht Hirschmüller online ergänzt und aktualisiert.

Die nun zum Abschluss gekommene Edition ist eine Ergänzung der schon vorliegenden Freud-Ausgaben durch eine konsequente Ausrichtung an den Erstveröffentlichungen. Spätere abweichende Auflagen wurden jeweils mit Erscheinen des Bandes der Erstpublikation auch digital zugänglich gemacht.

Damit ist ein großes Projekt zum Abschluss gekommen, das durch seine sorgfältige Edition, einleitende kunstvoll knapp gehaltene Einleitungen und einen sehr großen Registerapparat hervorsticht. Gegenüber den immer noch sehr dürftig editierten Gesammelten Werken aus dem Fischer Verlag ist die vorliegende Ausgabe ein Fortschritt und am Ende umfangreicher. Es bleibt die Frage, ob die programmatische Konzentration auf die Erstveröffentlichungsversion von Freuds Schriften und deren Druck als SFG alleine schon die große Anstrengung lohnt. Vielleicht hätte es gereicht, die Erstveröffentlichung neben den bisher nicht ganz vollständig und schlecht editierten Gesammelten Werken Freuds, die ohnehin online verfügbar sind, digital und online zu editieren mitsamt den Kommentaren von Tögel – als wichtiger Schritt zu einer kritischen Edition. Das hätte durch Crowdfunding für den Start, durch Unterstützung von Institutionen, Forschungsförderung und einen kleinen Obolus für den je aktuellen Gebrauch finanziert werden können, stelle ich mir vor. Ich stelle mir ferner vor, dass eine solche Edition dann auch offen wäre für einen erweiterbaren kritischen Apparat, jeweils einblendbar. Denn immer noch steht eine kritisch editorische Ausgabe aus. Diese wurde allerdings jüngst (2020) als digitale Ausgabe in Wien begonnen: Sigmund Freud. Historisch-kritische Gesamtausgabe, ein Kooperationsprojekt der Wiener Psychoanalytischen Akademie mit dem Institut für Germanistik an der Universität Wien und dem Austrian Center für Digital Humanities der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Anmerkungen

1

Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse (1926), in ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt a.M. 1955, Fischer, 209–296 (284).

2

Vgl. hierzu Karl-Josef Pazzini, Psychoanalyse & Ausbildung? Notizen zu einer Dokumentation. Rezension zu: Ludger M. Hermanns, Valérie Bouville, Cornelia Wagner (Hg.), Ein Jahrhundert psychoanalytische Ausbildung. Einblicke in internationale Entwicklungen, Gießen 2021, Psychosozial-Verlag, in RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 2022, 28f.