Dass das Widerspenstige gern gehasst wird, ist kein Geheimnis. Auch Oliver Davis und Tim Dean gehen in Hatred of Sex solchem Hass nach. Das Buch, geschrieben während der Präsidentschaft Trumps, ist ein gesellschaftspolitischer Eingriff ausgehend von der Gegenwart eines zunehmend gespaltenen, von identitätspolitischen Debatten geprägten Amerika. In der Tat bricht sich dort ein Sexualmoralismus Bahn, der der Prüderie der 1950er Jahre nahekommt. Davis und Dean erblicken darin ein Symptom dessen, was sie Sexhass nennen,1 und dem sie ihr nicht wenig provokantes Konzept von »benign sexual inappropriateness« entgegensetzen. Ein Zug, dem die Empirie erst einmal Recht gibt.
In Sex machen sie vor allem mit Jean Laplanche ein desintegrierendes Potenzial aus: eine existentielle Bedrohung der Ich-Identität, die im erschütternden sexuellen Erleben erfahren werde. Darauf stelle Sexhass die notwendige, universale Reaktionsform dar. Die These lehnt sich an Jacques Rancières Hass der Demokratie2 an, das elitären Demokratiehass als notwendig aus der demokratischen Herrschaftsorganisation selbst entspringendes Überschussprodukt beschrieb: die Partizipation aller Individuen am Allgemeinen sorgt für Unordnung, was den Hass der Eliten und ihren Wunsch nach Einhegung der Massen hervorrufe. Dem setzt Rancière einen demokratischen Egalitarismus entgegen, dem Dean und Davis folgen: Politisch setzen sie auf das Unruhe stiftende Potenzial dieser Massen, eine Art Allianz der Multitude. Denn wie in der Psychoanalyse das Unbewusste und Konflikt zugelassen würden, so habe es auch die Demokratie zu halten; propagiert wird ein agonistischer Pluralismus. Und wie die Eliten zur Demokratie und zu den Massen, so verhalte sich auch das Ich als eine Art aggressive Abwehrmaschine zu Sex. Dessen entbindende Kräfte wiederum sollen nach Davis und Dean identitätspolitischen Reinheitsvorstellungen auf individueller und gruppenidentitärer Ebene bis zum Nationalstaat Einhalt gebieten. Einer ungebrochen sexpositiven Haltung steht das ebenso entgegen wie der Rede von sexueller Identität, wie sie im Queerfeminismus en vogue sind: Davis und Dean kritisieren vehement die eigenen Reihen. Sie vertreten einen psychoanalytisch begründeten Universalismus, der sich auch so formulieren ließe: Eine konfliktuöse Beziehung zur eigenen Natur und die Unmöglichkeit der Herrschaft des Ichs im eigenen Hause sind uns allen gemein, was Vorstellungen einer kohärent-eindimensionalen Identität fundamental in Frage stellt.
Zwei Drittel des Buches konzentrieren sich in machtkritisch-diskursanalytischer Absicht auf die zunehmende Bürokratisierung von Sexualität und deren theoretische Legitimationszusammenhänge in den Queer Studies, der Bindungstheorie und der Psychotraumatologie.
Die Autoren zeichnen nach, wie der akademischen Institutionalisierung der Queer Studies die Etablierung eines von »Sex« gereinigten, respektablen Begriffs von Sexualität und eine Politisierung und Normierung der Forschung folgten. Sexhass artikuliere sich innerhalb der Queer Studies außerdem etwa in Anlehnungen an Silvan Tomkins Affekttheorie, beispielsweise bei Eve Sedgwick, oder im Zuge der Ausbreitung des Intersektionalitätsparadigmas: Da die Thematisierung von »race« mehr moralische Autorität einbringe als die von »sex«, werde letzterer aus den Forschungen verdrängt, wie sie an Roderick Fergusons One Dimensional Queer3 illustrieren. In vielen Punkten trifft die Kritik durchaus zu. Schwierigkeiten ergeben sich aus den gezogenen Konsequenzen: Sex sei nicht auf einem intersektionalen Identitäten-Spektrum zu verorten, wie race und gender, sondern »other-dimensional« (S. 64), von einer scheinbar außerirdischen, unversöhnlichen Intensität. Das bedeutet aber letztlich ebenfalls eine Einhegung, nur unter umgekehrtem Vorzeichen: »Sexual self-shattering holds a prophylactic value that stems from its counterintuitive tendency to break, rather than cement, interpersonal relations.« (S. 72) Der böse Sex ist der gute Sex.
Dieses Problem durchzieht auch die beiden folgenden Kapitel, die ebenfalls berechtigte Einwände gegen moralistische Zeitgeisttendenzen erheben. Bindungstheorie und Psychotraumatologie bilden gewissermaßen eine Einheit, die Diskurse über die Gefährlichkeit von Sex unterfüttere und die sich ideal für gouvernementale Zielsetzungen wie Normierung und Überwachung funktionalisieren ließe. Sex- und Demokratiehass kämen hier zusammen, wo mit Hilfe besagter Theoriekomplexe eine zunehmende Unterordnung der Einzelnen unter Expertenmeinungen und Verwaltungsverfahren erwirkt werde.
Bereits Anna Freud widersprach John Bowlbys Bindungstheorie vehement und sah in ihr eine Abkehr von allen bedeutenden psychoanalytischen Grundprinzipien: die Verortung des Konflikts im Individuum selbst einerseits und die Wirkung der Gesellschaft auf es andererseits, ein Verständnis vom Menschen als Trieb-, nicht bloßem Instinktwesen; entsprechend das Setzen auf die analytische Redekur, um Leid zu mildern. Bowlbys ethologischer Ansatz hingegen biologisiert den Menschen und ignoriert jegliche Faktoren jenseits der Mutter-Kind-Beziehung, in der er die alles bestimmende Determinante nicht nur für das Individuum, sondern letztlich für die gesamte Gesellschaft erblickt. Marga Vicedo (die in Hatred of Sex leider nicht erwähnt wird) hat in ihrer lesenswerten Studie The Nature and Nurture of Love4 die Erfolgsgeschichte der Bindungstheorie nachverfolgt und nicht nur deren theoretische und methodische Defizite aufgezeigt, sondern auch, auf welch fruchtbaren Boden Bowlbys Theorie und vor allem sein Praktizismus in den krisengeplagten 1950er Jahren fiel – und welche Konsequenzen das vor allem für Frauen hatte. Davis und Dean interessieren sich hingegen vor allem für das Paradigma sicherer Bindung, das nach wie vor zur Propagierung des Ideals stabiler Langzeitbeziehungen diene. Ihre antibiologistische Stoßrichtung sucht sich dabei in die Tradition psychoanalytischer Kritik an der deterministischen Bindungstheorie einzureihen: Bindungsverhalten ist für sie ein evolutionäres Überbleibsel analog der Gänsehaut; unbedeutend, da man nicht mehr in der Savanne lebe. Für den Menschen als gesellschaftliches Wesen ist Bindung allerdings jenseits der Biologie von Bedeutung. Sein Vorteil ist, dass er damit einen Umgang finden kann; sein Nachteil ist, dass er es muss. Gelungen ist das noch nicht, die Gesellschaft als zweite Natur ist der Savanne noch nicht vollends entwachsen, auch wenn Davis und Dean zurecht gegen die Vorstellung allerorts jagender »sexual predators« polemisieren.
Etwas von der Problematik dieser zweiten Natur sprechen die Autoren an, wenn sie die Psychotraumatologie als Anpassung des bindungstheoretischen Sicherheitsparadigmas an die Anforderungen des hochkompetitiven neoliberalen Kapitalismus verstehen, der staatliche Sozialleistungen – also ökonomische Sicherheit – immer weiter reduziert. In einer Engführung dieser Gegenwart mit den Theorien Judith Hermans und Valerie Sinasons und ihren suggestiv vorgehenden Trauma-Diagnostiken gehen Dean und Davis der Funktionsweise der Kuratierung von Opfer-Identitäten nach, wobei sie bei aller Härte tatsächliches Leid ernst zu nehmen suchen. Gerade das bedeutet zu erwägen, dass die sexueller Erfahrung innewohnende Ambivalenz ermöglicht, jene nachträglich als traumatisierende Übergriffssituation zu rekodieren – anstatt dass zum Kern eines psychischen Leidens vorgedrungen würde, der womöglich an einer ganz anderen, tiefer verschütteten Erfahrung aufzufinden wäre.5 Die Erfolgsgeschichte dieser therapeutischen Schule sehen die Autoren dabei nicht nur in ihrer Nützlichkeit für regierungstechnische Zwecke begründet, sondern auch in einer zunehmenden Kunden-Mentalität seitens der Patienten, die sie konzipieren als Ulrich Bröckling’sche unternehmerische Selbste: auf der Suche weniger nach Therapeuten als nach Trainern, und nach einer einfach handhabbaren Intelligibilität ihres Leids, für das sie als Opfer keine Verantwortung tragen.
Das Buch versammelt also interessantes Material und auch wenn viele der Kritikpunkte nicht neu sind, sind sie in solcher Bündelung und Vehemenz aus dem queertheoretischen Spektrum selbst heraus noch nicht geäußert worden. Dennoch hat die Gegenstrategie von Davis und Dean einen fundamentalen Defekt: Die Funktionalisierung und Politisierung von Sex als Garant für die kontinuierliche Erschütterung von Identität. Sicherlich kann er eine solche bedeuten, doch in der Argumentation von Davis und Dean wird Sex zu viel zugemutet: Das Aufbegehren gegen einen Apparat, der ihn selbst in der Form erst hervorbringt, welcher wiederum dafür in seiner Gesamtheit nicht berücksichtigt werden muss,6 während Sex als allem anderen vollkommen Entgegengesetztes verstanden werden kann, statt als Teil des Aufeinanderprallens von Körper und Geist. Laplanche erlaubt zwar eine Ablehnung der Vorstellung von Trieb-Endogenität. Doch auch er gibt einen Begriff nicht auf, der bei Davis und Dean auf dem Spiel steht: den des Individuums. Entsprechend vernachlässigt auch ihr Begriff von analytischer Praxis eine bei Laplanche zentrale Dimension: Während sie auf endlosen Konflikt setzen, der letztlich eine Art Ausfransen der Persönlichkeit bedeuten würde, ist für Laplanche der Analytiker zwar »Fachmann der Entbindung«7 und gewissermaßen für das Aufreißen von Widersprüchen zuständig, zugleich setzt er aber auch auf die immer wieder einsetzenden Syntheseversuche des Ichs. Erst in diesem Zusammenspiel macht er ein eventuell heilsames Potenzial aus. Die Emphase auf Entbindung gegenüber jedem Syntheseversuch, unabhängig davon, wie dieser strukturiert ist, läuft demgegenüber auf Relativismus und Wahnsinn, in gesellschaftstheoretischer Hinsicht auf Resignation hinaus.
Wo es kein Individuum gibt, ist nicht nur die Frage, wie es Widerstand geben soll – das größte Problem an der Selbstviktimisierung ist die damit einhergehende Verdammung zur Handlungsunfähigkeit –, sondern auch, wie es Sex geben soll. Einen solchen Begriff von Sex lehnen Davis und Dean allerdings ab, womit nicht weniger als die Lust selbst auf dem Spiel steht, die sie berechtigt einer Reduktion der Sexualität auf reproduktive Zwecke entgegensetzen und zur zentralen Instanz machen wollen. Philosophisch betrachtet, stellt Sex eine Art konstitutiv nichtidentisches Moment von Subjektivität dar.8 Subjektivität aber verstanden als Identitätsprinzip, das so sehr nur mittels des sich ihm widersetzenden, der Provokation, existiert, wie umgekehrt: Das Nichtidentische der Sexualität existiert nur dank des mit ihm ringenden, gesellschaftlich gemachten Subjekts. Es ist Ausdruck der prozessualen Ganzheit des Reibungsverhältnisses von Innen und Außen, Natur und Kultur, Geist und Körper. Die einzige politische Konsequenz, die sich sinnvollerweise ziehen ließe, wäre vorerst die Forderung nach einer Privatisierung von Sex zum Schutz dieses inneren Raums der Widersprüchlichkeit im Subjekt vor jeder politisierenden Überfrachtung. Das mag nach einer bloßen Antithese zu der Position von Davis und Dean klingen, doch lässt sich von hier aus die partielle Öffnung dieses Raums in der psychoanalytischen Praxis denken: ein Stück Selbstaufklärung also, die ebenfalls das in sich verhärtete Individuum zu erschüttern vermag und es sogar noch zur Reflexion anhält. Der Hass kann dennoch zur Ausgangskategorie für eine Gesellschaftskritik werden. Sie müsste sich dann nicht nur fragen, was warum gehasst wird – neben Körper und Sexualität ist das nämlich auch gern Geist und Abstraktion –, sondern auch, wie der Hass im Subjekt funktioniert: »[D]ie Leute lieben die, die ihnen zu hassen erlauben.«9
Die eleganteste Übersetzung wäre vielleicht »Hass des Sexuellen/der Sexualität«, doch diese Begriffe implizieren schon zu viel Vermittlung für das, um was es den Autoren geht, die den Sexualitätsbegriff schon als eine Hygienemaßnahme der Sexualwissenschaften verstehen. »Sex« meint für sie die Möglichkeit von in sich widersprüchlicher, exzessiver Lust.
Jacques Rancière, Hass der Demokratie, übers. v. Maria Muhle, Berlin 2011, August.
Roderick Fergusons, One Dimensional Queer, Cambridge, UK u.a. 2019, Polity.
Marga Vicedo, The Nature and Nurture of Love. From Imprinting to Attachment in Cold War America. Chicago 2013, University of Chicago Press.
Ein theoretisches Problem könnte bei einer rigideren Durchführung der hier aufgestellten Thesen der Bezug auf Laplanche darstellen, insofern dessen Aktualisierung der Freud‘schen Verführungstheorie bei aller Elaboriertheit strukturelle Parallelen zur Psychotraumatologie aufweist: Die Idee der Implantation der Rätsel durch den Anderen erlaubt, die Ursache des Konflikts im Außen des Subjekts auszumachen.
Eine Problematik, die sich im Gesellschaftsbegriff der Autoren wiederholt, der die ökonomische Produktion des »rabble« (dt.: Volk, Pöbel, Mob; oben als Massen übersetzt), auf den sie setzen, vernachlässigt. Wo ökonomisch Ungleichheit produziert wird, verfehlt ein abstrakter Gleichheitsbegriff sein Ziel.
Jean Laplanche, Ziele des psychoanalytischen Prozesses, übers. v. Udo Hock, in Jahrbuch für Psychoanalyse, 39 (1998), 93–113 (110).
Alenka Zupančič, What is Sex?, Cambridge, MA 2017, MIT Press.
Dirk Stermann, »Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen.« Erica Freeman: Der Roman eines Jahrhundertlebens, Hamburg 2023, Rowohlt, 117.