Eine Theorie der Nachlese scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Wie etwas einfangen, das sich schon per Definition jedem Versuch, ganz aufgelesen zu werden, entzieht? Doch vielleicht muss oder sollte man der Nachlese keine Theorie, kein Korsett aufzwängen. Das würde ihr schließlich nicht gerecht, ihr widersprechen. Derartiges möchte dieses Buch auch nicht: »Die Nachlese, um die es geht, also das Aufsammeln von Resten nach einer erfolgten Ernte, wenn fast nichts mehr übrig ist, kann aber kaum in Thesen gebündelt oder auf einen Begriff gebracht werden. Nichtsdestoweniger ist das Buch kein Plädoyer für die Nachlese; es geht auch nicht um die Propagierung einer neuen Theorie. Auch ist das Buch keine historische Konstruktion einer obsoleten Praxis.« (S. 7) Sich der Nachlese vielmehr als Nachleser:in zu nähern, bietet die Möglichkeit, diesem Untersuchungsgegenstand gewissermaßen von innen heraus, praktisch, mit der Hand lesend zu begegnen. Und genau das macht Judith Kasper in Land und Streit. Das Buch beschäftigt sich nicht nur mit der Nachlese, sondern ist gleichzeitig in die Praxis umgesetzte Nachlese.
In sechs Kapiteln führt Kasper durch verschiedene Momente der Nachlese in den Randbereichen von Religion, Recht, Literatur, Kunst, Philologie und Psychoanalyse. Der rote Faden der Nachlese – mal mehr, mal weniger sichtbar – geht nicht verloren, sondern hält die vielseitigen angeschnittenen Themen zusammen. Aufgelockert wird die Struktur durch sogenannte »spora« (S. 9) – kurze Prosastücke, die sich inhaltlich sowie zumeist auch positionell am Rand der sie beinhaltenden Kapitel bewegen und diese um etwas ergänzen, was im rein wissenschaftlichen Modus nicht ausgedrückt werden kann.
Besonders zur Geltung kommen die spora in ihrer unterstützenden Funktion. So positioniert Kasper bspw. eine spora zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2020 über das Containern (das Sammeln von abgelaufenen Lebensmitteln in den Müllbehältern von Lebensmittelgeschäften) zwischen zwei Rechtsdebatten, in denen die Nachlese kriminalisiert wird – das kurze Prosastück endet mit dem die Diskussion um die Nachlese in die Gegenwart ziehenden und zuspitzenden Satz: »Nach einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung landen jährlich 4,4 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll.« (S. 53) Die Nachlese bringt die Autorin zu ethischen Fragen, die bspw. die Einstellung gegenüber Lebensmitteln oder natürlichen Ressourcen betreffen. Etwas weniger radikal als Marx’ Vorschlag, den Eigentumsbegriff durch Enteignung abzuschaffen, schlägt Kasper ein sanfteres Vorgehen vor: »Doch vielleicht wäre es, diese Vorstellung verschiebend, auch denkbar, an den Grenzen des Eigentums zu arbeiten, Zonen darin herzustellen, wo das Eigene dem anderen immer schon zuneigt: dem anderen, dem Mitmenschen, dem Nicht-Eigentümer, aber darin auch dem Eingedenken der Tatsache, dass jedes Eigentum an der Erde eine Verantwortung gegenüber dem Ganzen des Planeten impliziert.« (S. 103)
Geleitet wird Kaspers Buch von einem philologischen Auge, das sich am Rande des Sinns bewegt und Liegengebliebenes oder von anderen Ignoriertes aufzusammeln hilft. Im Kapitel zu Recht beleuchtet die Autorin u.a. Karl Marx’ Artikel zu den Debatten über das Holzdiebstahlgesetz, die 1842 in der Rheinischen Post erschienen. Dabei untersucht sie vor allem Marx’ Gestus bzw. Schreibweise, die sich »einer Poetik und Rhetorik [bedient], die auf den Bäumen metaphorische Überschüsse sprießen lässt« (S. 69). So macht Kasper darauf aufmerksam, wie Marx bspw. mit der Assonanz zwischen fallen und fällen spielt (S. 70f.) oder den Zerfall des Rechts zu »morschem« Recht (S. 63) aufzeigt. Marx »ent-lernt das gelernte Lesen, er buchstabiert neu und bringt dadurch bestehende Begriffe, Überzeugungen und Urteile – anstatt sie zu fällen – zum Fallen« (S. 72). Darin erkennt die Autorin eine philologische und rhetorische Schwerkraft in Marx’ Argumentation, die bisher übersehen blieb.
Ergänzt wird der philologische Blick durch ein psychoanalytisches Interesse, das sich nicht nur im letzten Kapitel zur Psychoanalyse niederschlägt, sondern – mal latent, mal offenbar – sich durch das gesamte Buch zieht. Die alttestamentarische Geschichte um Rut, in der ein Gebot des Lassens, um eine Nachlese zu ermöglichen, sich einschreibt, liest die Autorin so an einer Stelle gemeinsam mit Freuds Traumdeutung und fragt sich, ob Nachlese eine Art zu träumen sei: »Zumindest in dem Sinn, dass beide – Traum und Nachlese – als Modalitäten erscheinen, Reste wieder aufzunehmen und aus ihnen anderes sprießen zu lassen.« (S. 24) Im letzten Kapitel wird die Psychoanalyse schließlich mit der Haltung der Nachlese verwoben. »Wer eine Erfahrung mit Psychoanalyse hat, wird im Lauf der Lektüre dieses Buches immer wieder geahnt haben, dass die Nachlese in ihrem radikal ethischen Anspruch des Übriglassens eine psychoanalytische Einstellung impliziert.« (S. 196) Der psychoanalytische Blick, der sich dem scheinbar Kontingenten widmet, spiegelt sich in der Haltung der Nachleserin, die aus dem Abfall anderer Nahrung und Wert zieht.
Der auf die Erde gerichtete Blick führt Kasper buchstäblich zum Humus und am »entfesselte[n] Kapitalismus« (S. 135) vorbei. In einer kurzen Auseinandersetzung mit den neuen Materialismen von Bruno Latour und Donna Haraway erkennt die Autorin in Haraways posthumanem, chthonischem critter die Figur der Nachleserin:
Im derart deklinierten und inklinierten, in den Humus gewendeten Post-Homo, der in Haraways sprachaffiner Spekulation aus einem neuen verwandtschaftlichen Verhältnis des Menschen zur radikal materialistisch gedachten Erde hervorgegangen ist, zeichnet sich die Silhouette der gebeugten Nachleserin noch einmal anders ab. Ja, man könnte meinen, diese alte, unterdrückte, meist weiblich vorgestellte Figur blickt uns in Haraways ökotheoretischer Speculative Fabulation als Figur einer künftigen, postkapitalistischen und posthumanen Lebensform entgegen. Und dieser Blick ist voller Humor. (S. 137)
So nutzt Kasper die Figur der Nachleserin auch dazu, um über Fragen nachzudenken, wie ein im Anthropozän bzw. Chthuluzän lokalisiertes, postkapitalistisches Leben aussehen könnte. Unterstützt wird diese Suche mit den immer wieder auftauchenden Bezügen zur Gegenwart, wie in der Auseinandersetzung mit Balzacs Les paysans:
Aus einer so zurückblickenden Nachlese, die keinen Überblick behauptet, aber unter dem Eindruck der gegenwärtigen sozialen und ökologischen Krise entstanden ist, in der die Erde und die Landwirtschaft, die an und mit ihr betrieben wird, wieder stärker ins Zentrum des Interesses rücken […], ist Balzacs alles andere als idyllischer Blick auf die campagne von bestürzender Aktualität. Gerade hier, wo man es nicht erwartet, entfesselt sich die Brutalität der kapitalistischen Ideologie besonders schlagend. (S. 102)
Gerade in den Bezügen zur Gegenwart zeigt sich die Prägnanz und das Gewicht der Argumentation im Buch. Die Figur der Nachleserin wird von Kasper eingesetzt, nicht nur um eine Haltung zum Lesen, sondern auch zum Leben in einer beschädigten Welt auszudrücken – einer Welt, in der es dringend neue Vorstellungen braucht, wie man mit Ressourcen umzugehen hat. Sich dem scheinbaren Abfall und Liegengebliebenen zuzuwenden, ist zunächst ein starker Anfang.
Mit einer Neigung zum Kleinteiligen, Vergessenen und scheinbar Kontingenten wendet sich Kasper als praktizierende Nachleserin den Buchstaben und ihrer Materialität zu. Die Diskussion um die Nachlese führt die Autorin an verschiedenen Stellen dazu, darüber nachzudenken, was Lesen ist. So wird es als »Haltung zwischen Aktivität und Passivität, die mehr oder weniger haltlos vom Kairos immer wieder aufgefangen wird« (S. 27) dargestellt. Dabei spricht sich Kasper für eine bestimmte Lesepraxis aus, die als Nachlese funktioniert:
Ich denke aber auch, dass es Leseeinstellungen zu erproben gilt, durch die die starre Grenze gelockert wird, um unentschiedene Zonen zwischen dem der Vernunft zugeschlagenen Sinnganzen und dem Sinnverfall zu entdecken, der dem Wahnsinn zugerechnet wird. Diese Zwischenräume verdienen, immer wieder ausgeschritten zu werden – lesend, auflesend, nachlesend. (S. 189)
Diese Art zu Lesen wird im Buch selbst auf brillante Weise vorgeführt.
Überzeugen kann Judith Kaspers Buch Land und Streit nicht nur darin, wie die verschiedensten Themen durch die Figur der Nachleserin bzw. der Nachlese als Praxis miteinander verwoben werden, sondern auch in der Genauigkeit und Schärfe des Lesens. Mit ca. 12x18 cm ist das Buch selbst recht klein gehalten, doch genau darin entfaltet es, wie die Nachlese selbst, auch seine Schwerkraft – im auf das Kleine gerichteten Blick, nachlesend und aus dem scheinbar Kontingenten Wirkung erzeugend, spielerisch und lustvoll.