Dies ist nicht die erste Rezension des materialreichen, dadurch fruchtbaren Buches von Michael Schröter.1 Eine jahrzehntelange Leidenschaft ist beim Lesen zu spüren. Alle, die zur Geschichte der Psychoanalyse weiter forschen möchten, können nun auf einen ungeheuren Schatz an Quellen, Namen und skizzierten Verbindungen zurückgreifen. Die vorangegangenen Rezensionen bieten ein reichhaltiges Bild der Stärken und Schwächen des Konvoluts.2 Der Aufbau der Untersuchung lässt sich dort nachlesen. Noch ein paar zusätzliche Notizen:
Es bleibt unklar, welchen »eigenen Weg« Schröter aufgezeigt hat: seinen, den der Psychoanalyse insgesamt in Deutschland oder den, der institutionell sich im Gefolge der medizinischen und naturwissenschaftlichen Herkunft Freud etabliert hatte und dabei nicht unbedingt Freuds und einiger anderer Impetus entspricht. Einige der ersten Analytiker kamen aus anderen Bereichen, einige Analytiker nicht nur der ersten Generation sind darin geblieben. Viele der größer gewordenen Zahl von Psychologen sind derweil in ihrem Habitus medizinisch professioneller geworden als Mediziner. Es ist schwierig zum Laien zu werden, auch für Soziologen; nicht immer schon zu wissen und zu können, Unbewusstes und den Unterschied von Tradierung und einer unbewussten, streuenden Weitergabe wahrzunehmen. Psychoanalyse neigt dazu, wie die als mythisch bezeichneten Triebe, Diskursgrenzen zu überschreiten. Schröter kennt Triebe eher im biologischen Sinn. Der Begriff ist für ihn nicht wie für Freud Moment einer Mythologie. Freud war seit den Studien über Hysterie klar geworden, dass er die Grenzen der etablierten Epistemologie und Methoden überschritten hatte. Er arbeitete mit ein paar wenigen anderen an den Grenzen der Darstellbarkeit, wie er das für den Traum expliziert hat. Dessen Deutung stößt auf den Nabel des Traums, die Marke einer Trennung, die auf eine nicht einzufangende Transmission aus der Menschheitsgeschichte verweist. Die Traumdeutung spielt weder als Werk noch als Praxis inhaltlich eine große Rolle bei Schröter. Die Verbreitung der Psychoanalyse in kulturwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche, künstlerische und alltägliche Diskurse werden als organisationssoziologische und geschichtswissenschaftliche Herausforderung nicht diskutiert. Sie werden angedeutet. Sie gehören zur Eigenart der Psychoanalyse. In diesem Sinne hätte die indirekte Wirkung auf die Physik, etwa über Robert Oppenheimer oder Albert Einstein, erwähnt werden können. Umgekehrt natürlich auch. So bleibt die Geschichtschreibung bei dem Ausschnitt der in Vereinigungen fest etablierten Psychoanalyse. Auf diesen Ausschnitt bezogen kritisiert er, dass sich die Psychoanaylse zu wenig anderen Diskursen geöffnet habe.
Bemerkenswert ist die Grundthese, die schon auf dem Buchrücken zu finden ist: Freuds Werk wird als in der Einsamkeit entstanden charakterisiert. Aus Einsamkeit – so Schröter – wird Eigenständigkeit mit einem Gefühl der Überlegenheit. Freud und seine Anhänger hätten sich der Auseinandersetzung mit der scientific community verweigert.3 Diese Isolation und Eigenständigkeit sei ab 1933 zerschlagen und ab 1945 allmählich wiederhergestellt worden. Folgt man dieser Darstellung, müsste man die Zeit von 1933 bis 1945 wie eine Befreiung der Psychoanalyse aus der sektenförmigen Isolation ansehen.
Im Epilog »Wiederbelebung der Freudianischen Tradition nach 1945« war es Alexander Mitscherlich, der zunächst noch offen gewesen wäre, da er auch nicht genuin aus dem medizinisch-psychoanalytischen Feld stammte, dann aber unter angloamerikanischen Einfluss geriet. Ihm sei klar geworden sei, dass er innerhalb der IPV agieren müsse.
Das ist für Schröter Bestätigung des esoterischen Charakters der Psychoanalyse. Aber das, was Schröter detailliert rekonstruiert, z.B. die Entwicklung der Psychoanalyse in Frankfurt um Karl Landauer herum, widerspricht der These von der Abgeschlossenheit; sie zeigt, wie sich über Personen vermittelt, die unterschiedliche professionelle Ausrichtungen hatten, Psychoanalyse anders realisieren konnte: Heinrich Meng, Frieda Fromm-Reichmann, Erich Fromm, Georg Groddeck förderten die Gründung des Frankfurter Instituts, die Kooperation mit der jungen Frankfurter Universität, dem entstehenden Institut für Sozialforschung, in dem dann auch das psychoanalytische Institut unterkam. Dazu kam Siegmund Heinrich Fuchs / Foulkes, der ein Therapeutikum gründete. All diese Informationen habe ich aus Schröters Darstellung gezogen (S. 419–427).
Schröter kritisiert zu Recht die bisherige Geschichtsschreibung, vor allem in der ideologischen Form der Freudbiographie von Ernest Jones. Mit seiner quellengestützten Kritik setzt Schröter die Befreiung der psychoanalytischen Geschichtsschreibung aus der ideologischen Rechtfertigung vereinspolitischen Handelns fort, bestätigt aber implizit eine letztlich auf staatliche Anerkennung ausgerichtete Psychoanalyse, der bloß die entsprechende universitäre Kultur fehle. Dabei will er nicht deuten, Distanz halten, ein realistisches Bild zeichnen. Diese Distanz wirkt methodologisch erstaunlich naiv. Als wenn der Bezug auf Dokumente und Zeugnisse von Zeitzeugen schon die Wahrheit verbürge. Man müsse diese nur lesen, suggeriert Schröter.
Im ersten Absatz der Einleitung geht es Schröter um die Rechtfertigung der Beschäftigung mit der Geschichte der Psychoanalyse. Er findet sie darin, dass kein anderes Gedankengebäude, vielleicht mit Ausnahme des Marxismus, Selbstverständnis und Zusammenleben der Menschen des 20. Jahrhunderts so sehr beeinflusst habe. In beiden geht es aber nicht nur um die Beeinflussung durch ein Gedankengebäude, das isoliert als wirkmächtig untersucht werden könnte, sondern um eine Denk- und Handlungspraxisform, die neue Weisen der sozialen Organisation hervorgerufen hat. Psychoanalyse konnte gar nicht umstandslos wie eine andere Wissenschaft vorgehen, zumal es ja in Forschung, klinischer Arbeit und Ausbildung um Verschwiegenheit geht. Diese bringt ein Darstellungsproblem mit sich, eine Schwierigkeit für eine Art der Empirie, die sich auf verschwiegene Zeugenschaft stützen muss. Diese Eigenart erwähnt Schröter, soweit ich sehe, nicht. Schröter bezieht Unbewusstes und auch Übertragung in seine Untersuchung nicht mit ein. Als Vokabeln kommen sie vor.
Als Rechtfertigung für sein Unternehmen gibt Schröter die Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse an. Was heißt Erfolg? Woran bemisst sich Erfolg? Ist das, was keinen »Erfolg« hat, nicht untersuchenswert? Schröter gibt nicht zu erkennen, was ihn als Soziologen und Historiker interessiert. Manchmal gewinne ich als Leser den Eindruck, als wäre da etwas offen, das nicht genannt werden kann, das dann zum Vorschein käme, wenn er sich kritisch mit den Besonderheiten der Psychoanalyse auseinandersetzte, anstatt mit nicht klar explizierten, eigenen Kriterien zu arbeiten. Er normalisiert Psychoanalyse zu einer Wissenschaft, die dann nicht wissenschaftlich genug ist. Wissenschaftshistorisch-theoretische Erwägungen fehlen ganz, nicht einmal solche aus dem Untersuchungszeitraum werden erwähnt. Für die soziologisch orientierte Geschichtsschreibung von heute wäre das psychoanalytische Theorem der Nachträglichkeit wahrscheinlich produktiv.
Er schreibt von Auswirkung hauptsächlich auf die »gebildeten Schichten der westlichen Welt« (S. 15). Auf unterschiedliche Weise ist Psychoanalyse eingesickert in alle sozialen Schichten. Das macht die Psychoanalyse relevant. – Zu fragen bleibt: Was war soziologisch so anziehend an der Psychoanalyse, was konnten andere Diskurse nicht leisten? Worin lag das Verführungspotenzial? Es kann nicht alleine in der Person Freuds gelegen haben. Wurde er und mit ihm Psychoanalyse nicht aufgeladen mit Erwartungen von Neugierigen, von Notleidenden?
Schröter macht eine Psychoanalyse stark, die Zürcher Form, wie er sie nennt, die seine Wunschvorstellung von Psychoanalyse zu sein scheint. Die eigenen Ressentiments gegen Psychoanalyse werden in der freundlichen Bewertung Jungs im fast Hegel‘schen Sinne aufgehoben.
Die Kritik an den Organisationsformen der Psychoanalyse, die aus Schröters Recherchen erwächst, geht unter, weil er eine rein sachliche, universitär orientierte Psychoanalyse favorisiert. Es wäre auch für einen Soziologen interessant zu erforschen, wie der spezielle Gegenstand Psychoanalyse soziale Wesen und ihre Organisationsformen mit der Überzeugung von der Existenz des Unbewussten (Freud) infiziert und gewohnte feste Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat unterwandert, Fehlleistungen ernst nehmen lässt und damit sowohl die Individuen wie deren Einrichtungen destabilisiert. Das hat manchmal destruktive Folgen für die forschende Weiterentwicklung und ganz persönlich für die Mitglieder. Wahrscheinlich kann auch soziologisch genauer gesehen werden, dass die Anleihen bei Organisationsformen der Religion (Orden), der Armee oder der Universität schwerlich mit den Inhalten der Psychoanalyse unproblematisch zusammengehen.
In Zukunft differenzieren könnte man die Geschichtsschreibung der Psychoanalyse durch das in und außerhalb von ihr sich dauernd wandelnde Konzept von Sexualität. Verengt auf bestimmte Handlungsformen unter Beteiligung von Genitalien wird eine fixe Idee daraus. Es könnte sich aber zu einer veränderten Form von Ontologie auswachsen. Auch wenn Psychoanalytiker wie Lacan, Philosophen wie Alain Badiou oder Jean-Luc Nancy und eine Altphilologin wie Barbara Cassin4 außerhalb des Untersuchungszeitraums liegen, können sie in Zukunft Anregungen geben, die sich historisch allmählich entfaltenden Implikationen von »Sexualität« zu berücksichtigen und mit der inneren und äußeren Soziologie der Psychoanalyse in Beziehung zu setzen.
In den erwähnten Rezensionen ist schon expliziert worden, dass es Schröter nicht ganz leicht hat mit der Einschätzung der Wirkung des Nationalsozialismus auf die Psychoanalyse und die einzelnen Analytiker.5 Es bleibt die Frage, ob in solchen Krisen wie der durch den Nationalsozialismus forcierten, nicht auch etwas von dem aufscheint, was in der DPG unabhängig von der äußeren Bedrängnis kritikwürdig war. Welche Analytiker waren auf einmal anschlussfähig mit ihrer Konzeption der Psychoanalyse? Welche eher widerständig? Das nur entlang des antisemitisch signifikanten Edgar Michaëlis zu beschreiben, ohne sich heranzuwagen an sehr unterschiedliche Signifikate, die darunter auftauchen können, bleibt ein aufgeklebtes Etikett. Schröter ist oft sehr nahe dran, hier Differenzierungen zu machen. Es berührt ferner merkwürdig, wenn die Kritik an oder die Zustimmung zur Psychoanalyse aus der Psychiatrie heraus immer wieder mit der aktuellen oder ehemaligen Zugehörigkeit zum Judentum in Verbindung gebracht wird.6 Es wird deutlich, wie diese identitäre Denkweise zur Gewalt neigt. Zu insinuieren, wie das bei Martynkewicz anklingt, dass Schröter antisemitisch sei, geht vollkommen am Problem vorbei, wäre eine Fortsetzung identifikatorischen Denkens. Schröter führt die Schwierigkeiten vor, in die der Nationalsozialismus und der Antisemitismus führen.7
Verträgt sich die Ethik der Psychoanalyse mit großen Anpassungsforderungen an diktatorische Politik? Oder bekommen in diesen Prüfungssituationen nicht auch psychoanalysefremde Haltungen die Oberhand? In diesem Sinne können dann Äußerungen der damaligen Protagonisten, die Schröter dokumentiert, und heißen sie Sigmund Freud und Anna Freud (vgl. S. 629), nicht als Freispruch gelten. Beide waren in einigen Bereichen des Politischwerdens der Psychoanalyse oft eher einfach machtpolitisch unterwegs und richteten für das spätere Handeln in den Vereinigungen einigen Schaden an. Schröter rettet die Eindeutigkeit, setzt auf den Mainstream einer gesellschaftlich angepassten und funktionierenden Psychoanalyse. Diese lässt sich einfacher als unzulänglich kritisieren. Da stören dann nur die jeweils Jungen.
Siehe Michael Fassel, Ein Sonderweg. Michael Schröter legt mit »Auf eigenem Weg – Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945« eine umfassende Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Psychoanalyse vor, in literaturkritik.de, Juni 2023, <https://literaturkritik.de/schroeter-auf-eigenem-weg-ein-sonderweg,29674.html> [letzter Aufruf am 7.6.2024]; Anthony D. Kauders, Wie schreibt man eine Geschichte der Psychoanalyse? Zu Michael Schröters Auf eigenem Weg, in Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 36:72, 215–220; Wolfgang Martynkewicz, Einige Anmerkungen zu Michael Schröters Studie »Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945« in Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 78:2 (2024), 169–195; Andreas Mayer, Quellenreich, aber methodisch problematisch: Michael Schröter legt eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis zum Jahr 1945 vor, in FAZ.NET, 13.08.2023, <https://fazarchiv.faz.net/faz-portal/document?uid=FAZN__20230813_9093816&token=61291c76-c362-48fd-b5a6-48925c35e7492023> [letzter Aufruf am 7.6.2024], Bernd Nitzschke, Das Buch eines Autors, der »nach Kräften von Wertungen Abstand« nehmen wollte. Michael Schröter ist mit »Auf eigenem Weg – Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945« an seinem selbstformulierten Anspruch gescheitert, in literaturkritik.de, März 2024, <https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=30337> [letzter Aufruf am 7.6.2024]; Wolfgang Schmidbauer, Über die ambivalente Geschichte der Psychoanalyse, in Psychologie heute, 2023, (08.06.2024), <https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/artikel-detailansicht/42662-ueber-die-ambivalente-geschichte-der-psychoanalyse.html> [letzter Aufruf am 7.6.2024]; Peter Theiss-Abendroth, Michael Schröter: Auf eigenem Weg, in socialnet.de, 9.6.2023, <https://www.socialnet.de/rezensionen/30293.php> [letzter Aufruf am 7.6.2024].
Siehe insbesondere: Martynkewicz, Einige Anmerkungen und Nitzschke, Buch eines Autors.
Das wird als bekanntes Merkmal neuer Wissenschaften in der Wissenssoziologie beschrieben. Siehe den Zeitgenossen Freuds Ludwig Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935), Frankfurt a.M. 1980, Suhrkamp.
Alain Badiou, Barbara Cassin: Es gibt keinen Geschlechtsverkehr. Zwei Lacanlektüren, übers. v. Judith Kasper, Zürich 2012, Diaphanes; Jean-Luc Nancy: Es gibt - Geschlechtsverkehr, übers. v. Judith Kasper, Zürich 2012, Diaphanes.
Siehe insbesondere: Martynkewicz, Einige Anmerkungen.
Ein Beispiel findet sich auf S. 558 bei der Erwähnung von Edgar Michaëlis in der Fußnote: »Von Geburt Jude, ließ sich Michaëlis nach dem Tod seiner Mutter taufen, […]«. – Welche Art von Christ Karl Jaspers war, erfahren wir nicht.
Wie Psychoanalyse historisch-politisch operieren kann, findet sich bei: Sergio Benvenuto, Israelis, Palästinenser. Von einer gleichen persönlichen Nähe zur persönlichen Äquidistanz, in Lettre International 144 (2024), 21–23.