Es ist viel die Rede davon, dass wir in postödipale Zeiten gekommen seien. Inzestverbot und Vaterautorität, die Freud zufolge unser Seelenleben mit seinen ödipalen Konflikten von Es und Über-Ich geformt haben, seien nicht mehr die wesentlichen Koordinaten. Das Über-Ich sei viel weniger ein verbietendes als ein gebietendes, sondern eines, das den Imperativ »geniesse!« uns vorschreibe. Wir machten uns nicht mehr nur durch Übertretung schuldig, sondern besonders wenn wir die Selbstverwirklichungs- und Selbstoptimierungstantiemen nicht einfahren. Das eiserne Band von Gesetz und Begehren, das die ödipale Welt regiert, sei aufgebrochen, und an Stelle der strukturierenden Abwesenheit des verbotenen und immer schon verlorenen Objekts sei die Präsenz des konsumier- und geniessbaren Objekts getreten.
Was ist von dieser These zu halten?
Soziologisch betrachtet gilt sicher, dass die ödipale Kleinfamilie nicht mehr das omnipräsente, gültige Standardmodell ist, das die Regel vorgibt, wenngleich jede klinische Erfahrung zeigt, dass das ödipale Modell sehr häufig der Kompass bleibt. Man kann daraus nicht schließen, dass die Barriere, die Freud als Inzestverbot beschrieben hat, nicht mehr ihre Wirkung tue. Ich würde mich Lacans – weniger postödipalen als den Ödipuskomplex dekonstruierenden – Lektüre anschließen, die die ödipalen Koordinaten als phantasmatische und zeitspezifische Ausformulierung einer allgemeineren Gesetzmäßigkeit versteht, die sich nicht auf die kleinfamiliäre Organisation beschränkt: »Das Lustprinzip ist jene Barriere für das Genießen und nichts anderes. Dass diese Barriere im Verbot der Mutter metaphorisiert ist, ist letztlich nur geschichtliche Zufälligkeit, und der Ödipuskomplex selbst ist da nur angehängt.«1 Die Barriere gegen das Genießen wirkt in uns, einfach weil wir Bewohner der Sprache und in ihr suchende und tastende Wesen ohne Ankunft sind. Dies schafft eine Unmöglichkeit, die nicht diejenige des Inzests ist, die aber nachträglich mit der Vorstellung des Inzests verbunden werden kann.
Die Sprache kann redundant sein, sie kann in Wiederholungszyklen gefangen sein, aber sie kann nicht, was die Mathematik kann: Sie kann nicht in einem Gleichheitszeichen eine Operation zu Ende bringen. Das Objekt, mit dem wir Genießen und Befriedigung finden, und das Objekt, das wir suchen und begehren, kommen nicht im Gleichheitszeichen zusammen. In seiner Theorie der vier Diskurse hat Lacan gezeigt, dass das, was ein Diskurs hervorbringt, sein »Produkt«, nicht seine »Wahrheit« ist. Es bleibt ein unüberbrückbarer Riss. Auch bei Freud ist das Objekt eines, das gesucht und (wieder) gefunden wird auf Grund eines ursprünglichen Verlusts, einer nie ganz ersetzbaren Abwesenheit. Freuds Begriff »Objektwahl« heißt nicht nur, dass wir ein Objekt wählen, sondern er heißt auch, dass es das Objekt ist, das uns wählt. Bei Freud, wie auch bei Lacan, ist das Objekt, das uns immer schon gewählt hat, das Objekt, das nur als Abwesendes insistiert, das Objekt, das wir immer schon verloren haben und nie ganz ersetzen können. Das gilt auch für das Objekt, das wir uns selbst sind: In allen Identitäten, die wir uns zulegen, verpassen wir uns zugleich. Von dieser unbewussten Disposition können wir uns nicht lossagen.
Das ist die Theorie, um die sich die Genussversprechen der kapitalistischen Warenwelt allerdings foutieren.
Wo der kapitalistische Diskurs dominiert, verspricht er, dass Begrenzung, Mangel, Begehren und unaufhebbarer Riss im Subjekt außer Traktanden fallen könnten und sich alles auf den Wegen von Konsum, Verzehr und Genießen regeln ließe. In der kapitalistischen Warenwelt werden Dinge produziert, von denen wir nie geträumt haben. Es ist der Markt, der die Sehnsüchte weckt. Wie im Märchen von Frau Holle sind die Früchte stets reif und die Regale der Warenhäuser wollen nur ausgeräumt werden. Die Möglichkeit, mittels entsprechender Apps auch die Sexualobjekte gemäß diesem Phantasma der Verfügbarkeit finden und wählen zu können, ist für viele Menschen attraktiv. Mit einem Tinderwisch ist dann das Objekt da. Wisch statt wish. Nicht selten allerdings auch ein Gefühl der Leere, das, wenn es nicht in hypomanischem Balzverhalten überspielt wird, doch darauf deutet, dass etwas fehlt.
Dass die Figur der Pechmarie, die von Kauf- und Konsumzwang sich abgrenzt, ethisch und ökologisch zum Vorbild geworden ist, zeigt die Umkehrung, die geschehen ist, aber auch den Widerstand, der sich in den Subjekten gegen das kapitalistische Versprechen regen kann. Während die Goldmarie, mit Dukaten überschüttet, diese fleissig wieder ins Marktgefüge einspeisen kann, als liefe alles wie am Schnürchen, bekommt die Pechmarie den Abfallberg zu spüren, den der Kapitalismus ausstößt, und muss sich damit beschäftigen. Die kapitalistische Warenwirtschaft ist strukturell antiökologisch.
Freie Menschen, die von einem Willen zu genießen beseelt sind, sollen wir sein, das ist der kapitalistische Refrain. Als gäbe es den Riss nicht mehr, der den Menschen durch die Seele geht, weil unser Begehren mit der Unmöglichkeit seiner Erfüllung verknüpft ist. Fällt der gordische Knoten von Gesetz, Begehren und Unmöglichkeit des Genießens, für dessen Sicherung bei Freud die väterliche Funktion steht, unter dem Hieb des kapitalistischen Diskurses auseinander? Könnte, in Lacans Worten gesagt, eine »Verwerfung der Kastration« möglich sein?
Die Antwort ist: nein, sicher nicht. Sicher nicht auf der Ebene der Subjektkonstitution. Sicher nicht, wenn es um unser Unbewusstes geht. Lacans Neuverortung der subjektkonstitutiven Faktoren ermöglicht doch zu begreifen, dass das konstitutiv Unbefriedigende der menschlichen Existenz nicht von einer verbietenden väterlichen Instanz abhängt, gegen die man sich auch auflehnen könnte, wie es die anti-ödipale Revolte der 68er-Bewegung versucht hat. Sie konnte ihr revolutionäres Ziel nicht erreichen, weil die sexuelle Befreiung die Herrschaft des Kapitalismus nicht tangiert hat, sondern im Gegenteil parallel lief mit der Befreiung der Warenwelt aus den Fesseln »väterlicher« Verbote und Einschränkungen.
Mit Massimo Recalcati ließe sich sagen: »Die kapitalistische Illusion verdrängt die Tatsache, dass die Unmöglichkeit der Befriedigung nicht von den Eigenschaften des Objekts abhängt, sondern von den Gesetzen der Sprache.«2 Und bestätigt nicht auch jede Suche der Befriedigung im präsenten Warenobjekt letztlich den zu Grunde liegenden Mangel und Riss, denn die Objekte des Genießens rufen doch ständig nach Neuem und nach Ersatz und tun so kund, dass keines die Lücke wirklich auszufüllen vermag.
Allerdings, was sind das für Einsichten, wenn sich kaum einer dafür interessiert? Gibt es das Unbewusste noch, wenn es im herrschenden Diskurs nicht gestützt wird? Diese Frage stellt sich auch, wenn man den anschwellenden Beratungs- Coaching- und Therapiemarkt anschaut. Das Heer der Ratschlagstherapeuten ist längst bei diesem Diskurs angekommen und empfiehlt uns, uns von »toxischen« Menschen – das sind die anderen – freizumachen und, statt in Beziehungen zu ihnen zu »investieren«, uns mit Menschen zu verbinden, die uns »guttun«, denn nur das sei emotional »energiesparend«. Die Abenteuer der Liebe, die Verstrickungen des Begehrens, das war gestern. Heute gilt es, sich als Player auf dem Beziehungsmarkt einzubringen und dort das zu holen, was uns nicht stresst, sondern unsere Kraft akkumuliert. Alles andere ist »red flag«. – Ich merke, dass mir derartige neoliberalen Therapiemodelle Angst machen. Sie unterstützen eine Vision von Menschen als reparaturfähigen Auftraggebern, denen versprochen ist, das Leiden loszuwerden und der eigenen Konflikthaftigkeit nicht begegnen und schicksalshafte Verstrickungen nicht hinnehmen zu müssen. Gewählt aber sind wir, das mindestens ist die Botschaft der Psychoanalyse, immer schon vom Abgründigen.
Die postödipale Vision hat eine Attraktivität, die ihr einen boomenden Markt sichert, aber sie kann die psychische Verfasstheit der Menschen nicht ändern und wirkt sich darum vor allem als Ausgrenzungs- und Entfremdungsmechanismus aus. Ausgrenzung all derjenigen, die »red flag« sind, und Entfremdung von all dem in uns, was als Zerrissenheit insistiert. Meines Erachtens bedingt dies eine intrinsische Grausamkeit im Markt der Achtsamkeit, der Wertschätzung und des Heilens. Und, um es noch deutlicher zu sagen, wenn es zutrifft, dass die Kriegstechnologien vielmals Vorläufer der zivilen Techniken sind, so müssen wir befürchten, dass die in den gegenwärtigen Kriegen zu beobachtende entgrenzte Grausamkeit, die nicht nur den weiblichen Körper zum Kampfschauplatz macht, sondern auch vor dem letzten Tabu, dem kindlichen Körper, nicht mehr Halt macht, uns ahnen lässt, was unter den Vorzeichen des Improvements und Empowerments im therapeutischen Sektor noch auf uns zukommen könnte.
Jacques Lacan, Von einem Anderen zum anderen. Seminar XVI, hg. v. Jacques-Alain Miller, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 2022, Turia + Kant, 328.
Massimo Recalcati, Untergang und Verdunstung des Vaters, übers. v. Ina Müller, in Tove Soiland, Marie Frühauf, Anna Hartmann (Hg.), Postödipale Gesellschaft, Wien 2022, Turia + Kant, 245–258: 254.