Im Exposé der RISS-Herausgeber zu diesem Jubiläumsheft »Ohne Gewähr« hat mich der Terminus Gewährsmann angesprochen. Er ist in der Psychoanalyse seltener anzutreffen als in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung, wo er mehreres bedeuten kann. Gewährsmann ist ein Informant, der sich in einem Bereich gut auskennt und bereitwillig Auskunft gibt. Er hat interessantes Material aufgezeichnet, gesammelt, bearbeitet und interpretiert. Seine Expertise kann aber auch darin bestehen, dass er selbst als Musterexemplar das Interessante in sich trägt und es freigibt.
Sigmund Freud führt Gewährspersonen hauptsächlich dann an, wenn es um die Glaubwürdigkeit der Psychoanalyse geht und wenn sein psychoanalytisches Theoretisieren sich auf Erkenntnisse aus anderen Wissensgebieten stützt. Gewähr heißt dann, dass jemand, der eine wichtige Erfahrung bezeugen kann oder in einem anderen Gebiet zuhause ist, für die Realität eines Sachverhalts einsteht, also dafür, dass eine Darlegung nicht bloß Wunschdenken oder Hirngespinst des Autors ist.
In seiner Vorlesung über »Die analytische Therapie« begegnet Freud dem Misstrauen seiner Zuhörer. Sie dächten, »dass die Beeinflussung des Patienten die objektive Sicherheit unserer Befunde zweifelhaft macht«, ja meinten sogar, »alles, was sich auf die Bedeutung der sexuellen Erlebnisse bezieht, wenn nicht gar diese selbst, sollen wir den Kranken ›eingeredet‹ haben«. Sie hielten die »Kombinationen« der Psychoanalytiker für Auswüchse »der eigenen verderbten Phantasie«.1 In der Hoffnung, dass seine Zuhörer der Analyse schließlich doch ihr »Zutrauen schenken«, führt Freud Aussagen einer Kategorie von Patienten an, die er von Übertragungstendenzen frei glaubt und die somit »über den Verdacht suggestiver Beeinflussung natürlich hoch erhaben« sei.
Unsere Gewährsmänner sind in diesem Falle die Dementen und Paranoiker […]. Was uns diese Kranken an Symbolübersetzungen und Phantasien erzählen, die bei ihnen zum Bewußtsein durchgedrungen sind, deckt sich getreulich mit den Ergebnissen unserer Untersuchungen an dem Unbewußten der Übertragungsneurotiker und bekräftigt so die objektive Richtigkeit unserer oft bezweifelten Deutungen.2
Im Zusammenhang mit seinen Konstruktionen zur Theorie des »psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit«, die auf seinen persönlichen Assoziationen von Signorelli, Boltraffio, Herzegowina … beruht, verweist Freud auf einen »Gewährsmann« für die »alles überragende Wichtigkeit de[r] Sexualgenüsse [] in der Schätzung [der] Bosnier«.3
Besonders für seine Traum-, Symbol- und Symptomtheorien braucht er Material aus anderen Forschungsgebieten. Er geht ja davon aus, dass der Traum, um Körperliches, besonders die Rätsel des Sexuellen, verhüllt zu bezeichnen, »sich solcher Symbolisierungen [bedient], welche im unbewussten Denken bereits fertig enthalten sind«4, und die man in der Populärkultur, in Redewendungen und Scherzworten usw. finden kann. Dem Träumer steht »die symbolische Ausdrucksweise zu Gebote […], die er im Wachen nicht kennt und nicht wiedererkennt«.5Bei der Fundierung seiner Deutungstechnik6 findet Freud ein »unersetzliche[s] Quellenwerk für alles, was das Geschlechtsleben der Völker betrifft« in den von Friedrich Salomon Krauß herausgegebenen »Anthropophyteia. Jahrbücher für folkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral«.7
Den Kollegen der Nachbarwissenschaften, auf deren Wissen er sich stützt, also »Mythenforscher[n], Religionspsychologen, Ethnologen, Linguisten usw.«, verspricht er seinerseits einen Zugewinn, wenn sie auf den ihnen vertrauten Stoff »psychoanalytische Denkweisen« anwenden,8 also »das Instrument« versuchen, welches die Analytiker ihnen »leihen können«.9 Hierbei tritt Freud selbst gleichsam als Gewährsmann auf.
Gewährspersonen nennt Freud auch Patienten und Nichtpatienten, die ihm interessante Träume, Erlebnisse und Handlungen mitteilen. Beispielsweise habe ein »intelligenter« Bekannter ihm in der Absicht einen Traum erzählt, »mich von voreiliger Verallgemeinerung in der Lehre vom Wunschtraum zurückzuhalten«10. Viele dieser Bekundungen zitiert er in zwei seiner Werke, die interaktiv in Arbeitsgemeinschaft mit ihren Lesern entstanden sind: Zur Psychopathologie des Alltagslebens und Die Traumdeutung.
In einer weiteren Bedeutung bürgt die Gewährsperson nicht für die Authentizität bestimmter Erfahrungen, sondern für die Glaubwürdigkeit, Kreditwürdigkeit desjenigen, der an einem fremden sozialen Milieu etwas erforschen will. Sie verschafft ihm Einlass in das unbekannte Gebiet und Zugang zu Personen, die unerreichbar wären oder die nur Vertraute empfangen.
Die verschiedenen Konnotationen der Gewährsperson lassen sich auf die psychoanalytische Praxis übertragen. Für diejenigen, die sich dorthin begeben und für die die Analyse in mehrfacher Hinsicht fremd und befremdlich ist, stellt der Analytiker einen Zugang her. Zu Beginn und im weiteren Verlauf des analytischen Prozesses fungiert er als ein Garant – nicht für den Erfolg einer Analyse, sondern dafür, dass Analyse stattfindet, d.h. dass der Analysant (!) diese Art von Arbeit vollziehen kann.
Basis des arbeitsteiligen Vorgehens des Analytikers und des Analysanten ist, dass der Analytiker für den Wert eines schlichten, unvorbereiteten, unkontrollierten und möglicherweise armsinnigen Sprechens einsteht, das der Grundregel folgt.
Mit der »Einleitung der Behandlung«11 gibt er zugleich eine praktische Einführung in die Psychoanalyse. Diese Art der Vermittlung (transmission) wirkt nicht durch Erklärungen, sondern durch einen Stil,12 mit dem er dem Sagen des Analysanten Gehör leiht, auf Einzelheiten eingeht, fixe Verbindungen zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat unterminiert oder es ihm erschwert, Akte und Gedanken vorschnell mit psychologischem Sinn zu füllen und damit das Gleiten der Signifikanten zu unterbrechen.
Das Wissen, mit dem er demjenigen, der sich an ihn wendet, eine gewisse Sicherheit gibt, ist nicht das in der Übertragung supponierte Wissen über die Gedanken, Wünsche und Genüsse des Patienten, sondern ein Wissen über die Funktionsweisen des Unbewussten und dessen Bildungen (Symptome usw.).
Da die Psychoanalyse eine praktische Theorie und eine theoretische Praxis ist, sind die Verfeinerungen des Wahrnehmungs- und Erschließungsvermögens des Analysanten in seiner Kur mit denen des psychoanalytischen Forschers und seiner Gemeinschaft vermittelt. Insofern sind die Patienten mit ihren Bildungen des Unbewussten, ihren überkommenen und aktuellen Deutungen Gewährspersonen für die Forschung des Analytikers, die zum Fortleben des Projekts Psychoanalyse beiträgt.
Im Hinblick auf das Kollektiv der Psychoanalytiker kann man von einer Vielheit von Gewährspersonen sprechen. Lehren, belehrt werden, aus etwas eine Lehre ziehen betrifft nicht allein das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Generationen. Wissensvermittlung findet ja auch im Gedankenaustausch der Kollegen statt, der zur Schärfung unseres begrifflichen Instrumentariums beiträgt und der dem Einzelnen dazu verhelfen kann, sich über das, was er tut, klarer zu werden.
Lacan hielt die Psychoanalyse für unvermittelbar (intransmissible), nachdem er sie jahrzehntelang mit besonderem Eifer gelehrt hatte. Es sei beschwerlich, dass jeder Analytiker gezwungen ist, »die Psychoanalyse wiederzuerfinden« (réinventer). Dies ist nicht so zu verstehen, dass tagtäglich, ja mehrmals am Tag, das Projekt Psychoanalyse aufs Neue ersonnen werden müsse, sondern dass jeder Analytiker, nachdem er eine ganze Zeit lang Psychoanalysant gewesen ist, erneut die Weise erfindet, auf die die Psychoanalyse andauern, sich halten kann (que chaque analyste réinvente la façon dont la psychanalyse peut durer).
Keiner kommt umhin, seinen Weg zu finden, zu erfinden, wie es bei ihm, in seiner Praxis, mit der Psychoanalyse weitergehen kann. Die Psychoanalytiker sollten zu solchem Erfinden in der Lage sein. Dazu gehört auch, dass sie permanent ihr Tun im Hinblick auf ihr Analytikerbegehren befragen (etwa in der Kontrollanalyse) und Sorge tragen für ihre »Aufnahmsfähigkeit« und »Aufnahmsfrische« (Freud). Diese Kulturarbeit ist nicht mit einer »absolvierten« Ausbildung zu Ende.
Für all diese Prozesse sind die Darstellung und Diskussion der Psychoanalyse im kleinen Kreis und in der großen Öffentlichkeit unverzichtbar. Für diese 100 Hefte umfassende und viel weiter reichende Gewährleistung sei an dieser Stelle dem RISS gedankt, seinem Begründer Peter Widmer und den Generationen von Herausgebern und Redakteuren.
Sigmund Freud (1917), 28. Vorlesung: Die analytische Therapie, in Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1969, S. Fischer, 466-483; 470.
Ebd., 471f.
Sigmund Freud, Zum psychischen Mechanismus der Vergeßlichkeit, in Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1969, S. Fischer, 526, FN 4.
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in Gesammelte Werke, Bd. 2-3, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1969, S. Fischer, 354.
Sigmund Freud, 10. Vorlesung: Die Symbolik im Traum, Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1969, S. Fischer, 150-172; 168.
Ebd., 170 f.
Ebd., 164.v
Vgl. Claus-Dieter Rath, Zu den ›Anwendungen der Psychoanalyse‹, In BRIEF der Psychoanalytischen Assoziation »Die Zeit zum Begreifen«, 19/20 (1997), 56–72. <https://www.freud-lacan-berlin.de/wp-content/uploads/2022/02/Die_Zeit_zum_Begreifen_Nr._19_20.pdf>
Sigmund Freud, Einleitungspassage der Vorfassung: ›Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker‹, in IMAGO. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Bd. 1, 1912, 18.
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 160f.
Vgl. Freuds gleichnamigen Text Zur Einleitung der Behandlung (›Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse‹), in Gesammelte Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1969, S. Fischer, 454-478.
Vgl. Jacques Lacan, La psychanalyse et son enseignement, in Écrits, Paris 1966, Seuil, 437-458, <https://psychaanalyse.com/pdf/lacan_pas_tout_lacan_1957-02-23.pdf> Deutsche Übersetzung im Internet: <http://hinrich-luehmann.de/psychoanalytisches-h-l/lacan-la-psychanalyse-et-son-enseignement-deutsch-von-hl/>
Jacques Lacan, Conclusions – Congrès de l’École freudienne de Paris sur »La transmission« (1978), <https://ecole-lacanienne.net/wp-content/uploads/2016/04/1978-07-09.pdf>