Als Sigmund Freud 1915 in Triebe und Triebschicksale eine systematische Auslegung des für seine Metapsychologie zentralen Triebbegriffs in Angriff nahm, sah er sich zu einer erkenntnistheoretischen Vorüberlegung veranlasst. Oft heiße es, so erklärte er, eine Wissenschaft solle »über klaren und scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein«.1 Doch in Wahrheit würden selbst die exaktesten Wissenschaften zunächst mit unreinen Begriffen operieren. Wissenschaftler würden sich zunächst an einem bestimmten »Erfahrungsmaterial« abarbeiten, sich zu dessen Erhellung auch von Ideen und Konzepten aus ganz anderen Wissensbereichen bedienen.2 Von klar definierten Grundbegriffen könne in solchen Frühstadien fachwissenschaftlicher Entwicklung nicht die Rede sein, der Begriffsgebrauch sei vielmehr ein konventioneller, pragmatisch über die gemeinsame empirische Arbeit begründeter. »Erst nach gründlicherer Erforschung des betreffenden Erscheinungsgebietes«, so Freud weiter, »kann man auch dessen wissenschaftliche Grundbegriffe schärfer erfassen und sie fortschreitend so abändern, daß sie in großem Umfange brauchbar und dabei durchaus widerspruchsfrei werden.«3 Wobei das Beispiel der Physik zeige, dass auch die einmal definitorisch festgezurrten Begriffe im Zuge des Erkenntnisfortschritts einem erneuten »Inhaltswandel« unterliegen können.4 – Einen radikalen Inhaltswandel in Bezug auf die Freud’sche Triebkonzeption konnte man dann schon fünf Jahre nach den metapsychologischen Bestimmungsversuchen von 1915 beobachten, als Freud mit dem Todestriebkonzept viele der Erörterungen aus Triebe und Triebschicksale hinfällig werden ließ.5
Freuds Schema der wissenschaftlichen Begriffsentwicklung in seiner Frühphase der kreativen Einführung neuer Konzepte, der mittleren Phase des konventionell-empirischen Gebrauchs der noch »unreinen« Begriffe und der Spätphase der konzeptuellen Klärung ist von einem starken Optimismus in Bezug auf den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt getragen. Nicht berücksichtigt wird dabei die Möglichkeit, dass Begriffe bzw. ihre Gebrauchsweisen nicht auf Seiten des Aufklärenden, sondern des Verdunkelnden, ja Verdrängenden stehen können. Mangelt es in einer stagnierenden Disziplin einerseits am Gegenstandsbezug und andererseits an der Bemühung um begriffliche Klärung, kann der von Freud »konventionell« genannte Gebrauch in einen Jargongebrauch herabsinken. Begriffe dienen dann nicht mehr dazu, Phänomene aufzuhellen, sondern werden als Erkennungszeichen einer Gruppe verwendet, deren Mitglieder alle irgendwie das gleiche zu meinen meinen – und zur Aufrechterhaltung dieser Illusion der begrifflichen Reflexion ausweichen.
Folgt man der Diagnose des britischen Psychoanalytikers Darian Leader, so hat der Begriff der »Jouissance« im lacanianischen Diskurs seit geraumer Zeit den Status eines solchen Jargonbegriffs. »The abundant and rather rhapsodic references to ›jouissance‹ seemed to distract from any proper scrutiny of the themes of sexuality and suffering that were apparently being evoked« (S. vii), heißt es schon in der Danksagung zu seinem Buch Jouissance. Sexuality, Suffering and Satisfaction. Auf den folgenden knapp 150 Seiten begegnet uns alle paar Zeilen die Klage über den »lazy and descriptive use« (S. 5) des Jouissancebegriffs, über konzeptuelle »sophistry« (S. 78) und über die damit verbundene »impoverishment of our theory« (S. 129). Von allen lacanianischen Konzepten, so Leader zusammenfassend, sei Jouissance »the one that is the least coherent and the least rigorous« (S. 132f.). Leaders Arbeit ist entsprechend dieser Situation nicht (nur) als Vorschlag zur begrifflichen Klärung zu verstehen, sondern auch als Streitschrift, die provozieren und aufrütteln soll. Die Adressaten der mitunter polemischen Kritik sind dabei stets »Wir Lacanianer«. Leader hatte sich in seinen vorherigen Buchpublikationen an eine allgemeine Öffentlichkeit gewandt und sie auf wohldosierte, subtile Weise mit Lacans Ideen vertraut gemacht. Sein erstes dezidiert lacanianisches Fachbuch ist nun also eine leidenschaftliche Selbstanklage. Wenn der Begriff der Jouissance in erster Annäherung den Punkt bezeichnet, an dem Lust über sich selbst hinaus in den Schmerz treibt, dann liefert Leaders ungebändigte Kritik des eigenen Feldes ein vorzügliches Beispiel für das von ihm untersuchte Konzept.
Die unterschiedlichen Ansätze, mit denen Autoren in einer solchen wie der von Leader beschriebenen Situation die Begriffsarbeit für gewöhnlich angehen, lassen sich idealtypisch entlang der von Freud postulierten Libidostadien charakterisieren. So hebt die Begriffsarbeit, wenn sie im oralen Modus verbleibt, die zahlreichen Anklänge mit anderen Feldern und Autoren hervor, löst dabei das Spezifische eines Konzepts in lauter Ähnlichem, in einer grandiosen oralen Begriffsverschmelzung auf. Der anale Begriffsarbeiter wird dagegen unterschiedlichste Verwendungsweisen eines Begriffs philologisch herausarbeiten; Bestenfalls wird er so am Ende eine Systematik darlegen, deren praktischer Wert allerdings meist kaum gegeben ist. Der phallische Theoretiker wird schließlich aus den unterschiedlichen Begriffslesarten die eine richtige gefunden zu haben meinen: den entscheidenden Schlüssel, der alle anderen aussticht und das grandiose Tor zur begrifflichen Klarheit vermeintlich öffnet. Der Preis seiner potenziell innovativen Auslegung wird dabei freilich die Reduktion der produktiven Ambiguität des ursprünglichen Begriffs sein.
Leader umgeht mit seiner (genitalen?) Arbeit am Begriff der Jouissance diese Fallstricke. Er bringt den lacanianischen Jouissancebegriff mit Konzepten und Ergebnissen aus anderen Wissensfeldern in Kontakt – vor allem mit diversen nicht-lacanianischen psychoanalytischen Theorieschulen (Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, relationale Psychoanalyse), aber auch der Sexologie und der Säuglingsforschung –, aber nicht um Differenzen zu nivellieren, sondern um ein Überdenken und Konturieren des Jouissancebegriffs anzustoßen. Er systematisiert souverän unterschiedliche Auslegungsweisen von Jouissance schon im Lacan’schen Werk, erhebt diese Ordnung aber nicht zum Selbstzweck, sondern nimmt sie zum Anlass, die Probleme in der jeweiligen Begriffsverwendung anzugehen. Schließlich macht er Vorschläge, wie dem Jouissancebegriff seine explanatorische Kraft zurückgegeben werden kann, glaubt aber nicht, alle Probleme auf einen Schlag lösen zu können. Letztlich stellt seine Arbeit sogar den schillernden Jouissancebegriff selbst in Frage: »we are better served by a plurality of concepts rather than one catch-all term« (S. 7).
Von den theoretischen Impulsen, die Leaders Reflexionen geben, seien an dieser Stelle nur eine Handvoll herausgehoben.
Leader problematisiert die bei Lacan angelegte und im Lacan-Diskurs weiter mitgeschleppte Konzeption eines primär autistischen/autoerotischen Genießens. Der libidinöse Bezug auf den eigenen Körper habe unter der Oberfläche immer eine latente »relational structure, a link to the Other« (S. 23). Nicht grundlos habe Harry Sullivan den Begriff der erogenen Zonen durch »zones of interaction« (S. 18) ersetzt. Die Ansprüche, Sorgen und Interessen des erwachsenen Anderen schreiben sich in den Körper ein, werden in der libidinösen und auch aggressiven Besetzung von Körperzonen reaktiviert. Leaders Reflexionen zu möglichen Funktionen kindlicher Selbstberührungen, insbesondere den Begleitgesten des oralen Autoerotismus, gehören zu den tiefsten Stellen seines Buches (S. 84–91). Nach Diskussion psychoanalytischer, ethologischer und kognitionspsychologischer Modelle kommt er dabei zu dem Schluss, dass die Verdopplung der Begegnung mit dem Anderen als Berührung des eigenen Körpers eine Art Rumpfstruktur etablieren helfe, die Erregungsregulation ermögliche.
Leader arbeitet sich immer wieder an einer substantialistischen Auffassung des Jouissancebegriffs ab. Dieser von ihm auch als »jelly model« (S. 108) oder »electric juice idea« (S. 128) bezeichneten Konzeption zufolge sei Jouissance eine verschiebbare, viskose Substanz. Nach viel zitierten Worten Lacans könne Jouissance etwa in der Paranoia in den Anderen verlagert werden, in der Schizophrenie hingegen in den Körper zurückkehren (S. 108f.). Leader zeiht den Lacan-Diskurs hier des Konkretismus und sieht für die Existenz einer solchen Substanz keine Anhaltspunkte. Er bezieht sich dabei auf klassische Kritiken der Trieb- und Libidotheorie, die hierzulande ihren Höhepunkt wohl in Habermas’ These des szientistischen Selbstmissverständnisses der Psychoanalyse hatten.6 Der Rezensent kann der Fundamentalkritik an angeblich unzulässig transferierten naturwissenschaftlichen (mechanizistischen, vitalistischen...) Erklärungsmodellen in die Psychoanalyse nur bedingt zustimmen. Metapsychologie ist immer eine metaphorische Erschließung des psychischen Innenraums, und solange man sich dessen bewusst ist, dass psychische/sexuelle Energie nicht unmittelbar messbar ist, spricht wenig gegen einen heuristischen Gebrauch dieser produktiven Metapher.
Immer wieder kommt Leader auf den Konnex von Jouissance und Separation vom Anderen (im Sinne der Emanzipation von dessen Jouissance) zurück. Leader zufolge ist die aufzubringende Aggression in der aktiven Abwendung vom Anderen, der Zurückweisung der von ihm aufoktroyierten Signifikanten eine der wesentlichen Wurzeln der affektiven Ambiguität (zwischen Schmerz und Lust) des Genießens. Für die Separation sei wiederum die Besetzung des eigenen Körpers zentral; er könne, gleich den Übergangsobjekten Winnicotts, eine vermittelnde Rolle zwischen Innen und Außen spielen (S. 92).7 Wegweisend könne an dieser Stelle auch das von Erik Erikson entworfene Konzept der negativen Identität sein (S. 36). Insbesondere bei erdrückenden elterlichen Ansprüchen sei die Identifikation mit dem Abjekt der einzige Weg einer effektiven Trennung von den Primärobjekten. Aus einem so gebildeten Ich-Ideal entspringen Bestrebungen, deren Erfüllung zugleich lust- und schmerzvoll seien.
Eingehend diskutiert Leader Lacans Theorie des Spiegelstadiums. Im Anschluss an die Arbeiten von Bemuha Amsterdam differenziert er verschiedene Subphasen in der Spiegel(v)erkennung. Vor allem unterscheidet er eine frühe Körperidentifizierung vom später (ab dem 18. Lebensmonat) auftretenden Transitivismus, in dem es auch um eine Positionierung im intersubjektiven Raum gehe (S. 48).9 In der gängigen Rezeption des Spiegelstadiums vermisst Leader vor allem zwei Komponenten: die Betonung der initialen Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Kindes, die den Nährboden für Wut und Destruktion noch vor der Aneignung des Spiegelbilds lieferten sowie die Körperbild konturierende Qualität des Schmerzes (S. 52). Die Lebensphase, in der Lacan den Beginn des Spiegelstadiums ansetzt, sei zugleich die Zeit, ab der Kinder sich mitunter in Wutanfällen selbst schlagen (S. 53).
Die schärfsten Töne lässt Leader schließlich in Bezug auf Lacans Formeln der Sexuierung mit ihrem Gegensatz von phallischem und Anderem Genießen vernehmen. Diese Formeln, die auszulegen sich Leader nicht bemüht, würden auf eine hypnotisch-suggestive Weise lediglich »old cliches about the sexes« (S. 119) reaktivieren.
Lacan seems impressed by women who sacrifice themselves – an old trope that ultimately equates femininity with renunciation of oneself and one’s objects – and refers to the ›true woman‹ several times, with the obvious implication that some – and probably most – females are not true women. Nice. (S. 121)
Gegen die Mystifizierung des weiblichen Genießens als das ganz Andere empfiehlt er den Lacanianern kollektive Nachhilfe in sexueller Physiologie, wobei er selbst nur einzelne Befunde, etwa zu unterschiedlichen Orgasmusarten, grob anreißt. Interessanter erscheint an dieser Stelle seine beiläufig gemachte Bemerkung, dass der Erfolg der Sexuierungsformeln auf einer heimlichen Verdrängung von Theorien des Konflikts beruhe (S. 119) – wobei er die Frage aufwirft, ob an dieser Stelle nicht eine Rückkehr zu den »theories of bisexuality« angezeigt sei, »that have always seemed so embarrassing to Lacanians« (S. 120). Tatsächlich ist mit dem recht weitgehenden Verschwinden der Kategorien Konflikt und Bisexualität – ablesbar etwa an fehlenden Beiträgen zum Thema in entsprechenden Standard- und Nachschlagewerken – ein empfindlicher Punkt der lacanianischen Theoriebildung getroffen.
Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale [1915], in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, Bd. X, 209–232: 210.
Ebd.
Ebd., 210f.
Ebd., 211.
Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips [1920], in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, Bd. XIII, 1–69.
Jürgen Habermas, Das szientistische Selbstmißverständnis der Psychoanalyse. Zur Logik allgemeiner Interpretation [1968], in ders., Erkenntnis und Interesse, Hamburg 2008, Meiner, 292–322.
Siehe dazu auch: Mathias Hirsch, Der eigene Körper als Übergangsobjekt sowie Der Objektaspekt des Autoerotismus, in ders., Der eigene Körper als Objekt. Zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens, Gießen 1998, Psychosozial-Verlag, 9–32 und 229–240.
Eine gute Zusammenfassung aktueller empirischer Forschungsbefunde zum Thema fand ich bei: Martin Dornes, Die Rolle des Spiegel(n)s in der kindlichen Entwicklung, in ders., Die emotionale Welt des Kindes, Frankfurt/M. 2002, 3. Aufl., 175–226.
Zur Bedeutung des Schmerzes in der Psychoanalyse, siehe Heft 74 des RISS.