RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse. Nr. 100: Ohne Gewähr. Hg. v.
Camilla Croce
Judith Kasper
Karl-Josef Pazzini
Mai Wegener
, 914 (ISBN: 978-3-911681-02-5, DOI: 10.21248/riss.2024.100.74).
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Editorial

Editorial

Editorial

Camilla Croce

Judith Kasper

Karl-Josef Pazzini

Mai Wegener

»Ohne Gewähr« ist der Titel der 100. Nummer des RISS. Die runde Zahl lädt uns nicht zur jubelnden Selbst-Vergewisserung ein. Vielmehr möchten wir die Fragilität des Unterfangens der Psychoanalyse in den Blick nehmen.

Mit dem nachstehenden Exposé, das wir – die Heftredaktion – im Winter 2022/23 verfasst haben, haben wir eingeladen, mit kürzeren Texten zu diesem Heft beizutragen.

~

Die Psychoanalyse setzt sich in ihrer Arbeit mächtigen Dynamiken des Unbewussten aus, sie hat und nimmt Anteil daran, ohne sie beherrschen zu können. Es braucht deshalb Schutz – Techniken und Formen der Kooperation –, damit Analysant*innen und Analytiker*innen es mit dem seit Freuds Traumdeutung in Bewegung gesetzten Acheron aufnehmen können. Ein Jonglieren auf unsicherem Gelände findet in der Analyse statt, dessen Angstlust allerdings auch in Sicherungsbestrebungen enden kann, die, gesellschaftlich allgegenwärtig, auch auf die Psychoanalyse übergreifen: von außen, aber auch innerhalb der Psychoanalyse sind sie am Werk.

Den vielfachen Bestrebungen zur Sicherung, Einhegung, Medikalisierung, Evaluierung und Regulierung, wie sie die Psychoanalyse von Beginn an begleitet und in verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen annimmt, möchten wir entgegenhalten: Die Psychoanalyse hat es im Kern mit etwas Unregulierbarem, politisch gewendet, Unregierbarem zu tun.

Lapidar, aber nicht weniger radikal formuliert: So ist das mit der Sexualität.

Auch wenn der erste Schritt – diese Tatsache anzuerkennen – nicht reicht, sei sein Gewicht hier betont: »Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus«, so hat Freud es formuliert; »Sie wissen nicht, was Sie denken«, könnte eine andere Weise sein, es zu sagen oder »Protect me from what I want« (Jenny Holzer). Es mit dem Unbewussten zu tun zu haben, heißt, mit etwas umzugehen, das sich entzieht, das quergeht, das mächtig ist und zerstörerisch sein kann. Nicht nur die Psychoanalyse hat damit zu schaffen.

Wo in unserer Gegenwart ist Raum und Zeit, dem Unregulierbaren als solchem zu begegnen, es zu bedenken, von ihm und mit ihm zu sprechen? Die Psychoanalyse ist nicht der einzige Ort dafür, aber sie hat für ihn eine besondere Verantwortung. Denn ihre Praxis und ihre Theorie leben davon, dem Unregulierbaren Gehör zu schenken, davon öffentlich Zeugnis zu geben und dies auf eine Weise, die Normalisierung und Anpassung als Antwort ausschließt.

Im Manifeste pour la psychanalyse, das 2004 im Zuge der neuen Psychotherapiegesetzgebung in Frankreich publiziert wurde, um die Eigenheit der Psychoanalyse und ihre Differenz zur Psychotherapie herauszuheben, schreiben die Verfasser:

Jede Psychoanalyse ist eine singuläre Erfahrung, wodurch jede Art von Programm und Garantie a priori aus den Angeln gehoben wird. Sie beruht auf einer Beziehung mit dem Symptom und zielt darauf, dessen Wahrheit herauszufinden. Sie beruht nicht darauf, es in Hinblick auf eine Normativität zu beseitigen. In diesem Sinn ist die Psychoanalyse die Antagonistin jeder Form von Psychotherapie. Auch wenn ihre therapeutischen Effekte erwiesen sind, gilt es daran zu erinnern, dass die Psychoanalyse aus der Verweigerung entstanden ist, ihr Handeln der Suggestion unterzuordnen, auch darin unterscheidet sie sich von der Psychotherapie.1

Die Behauptung, eine externe Instanz könne den guten Verlauf einer Analyse sicherstellen (wüsste zu sagen, was das sei; wüsste zu entscheiden, wer darüber befinden kann), ist selbst suggestiv. Wir möchten behaupten, der psychoanalytische Diskurs stehe dafür ein, dass es zumutbar ist, ohne die Illusion einer solchen Gewähr zu leben.

Auch wenn wir das behaupten, fragen wir: Muten wir damit den Subjekten zu viel zu? Steht der psychoanalytische Diskurs somit auf verlorenem Posten? Wer springt ihm heute bei, wer hält die Wette? Wie lässt sich auf die veränderten Bedingungen, unter denen die Psychoanalyse steht, antworten? Und auch: Wer oder was hält diejenigen, die diese Wette halten? Anders gefragt: Welche Formen der Begleitung oder Stützung gibt es, welche können noch erfunden werden, die der Psychoanalyse gerecht werden?

Weil diese Fragen dringlich für uns sind – und, wie wir denken, nicht nur für uns, möchten wir in diesem Heft der Frage nach der Gewähr, bzw. nach der fehlenden Gewähr nachgehen: für die Psychoanalyse und diejenigen, die in und mit ihr arbeiten. Wie steht es mit der Zumutung der Psychoanalyse, mit ihrer Verantwortung und ihrer Gewährleistung?

»Gewähr« ist, als ein vornehmlich juristischer Begriff, vertraut aus Komposita wie »Gewährleistung« oder »Gewährsmann«. Mit dem Vorsatz »ohne« haben wir es vor allem von der Ziehung der Lottozahlen her im Ohr: »Alle Angaben sind ohne Gewähr«. Während die Klausel von der Richtigkeit der Angaben juristisch entpflichtet, meint »ohne Gewähr« für die Psychoanalyse zunächst: Offenheit für den Zufall. Darin verbindet sie sich mit dem Glückspiel. Dass aus den Zu- und Einfällen während einer Analyse etwas sich gewinnen ließe, vielleicht sogar, dass sich in ihnen ein Los abzeichne, darauf setzt die Deutung. Der Ausgang ist allerdings »ohne Gewähr«, auch weil sich das Schicksal nicht einklagen lässt. Was aber nicht heißt, dass die analytische Deutung willkürlich oder gar willfährig wäre. Im gemeinsamen Ausgesetztsein – des Analysanten wie des Analytikers – ans inkommensurable Unbewusste prägt sich ein anderer Begriff von Verantwortung aus, der vermutlich immer noch zu wenig in die Öffentlichkeit übersetzt worden ist, als dass, diese darauf vertrauend, die Psychoanalyse in ihrem Tun gewähren ließe.

In letzter Formulierung entwindet sich der Begriff der »Gewähr« gleichsam aus seiner mit »Kontrolle« und »Sicherheit« synonymen Bedeutung und verweist vielmehr die Rolle des Gesetzes darauf, sich zurückzuziehen, um etwas gewähren zu lassen.

In seinem Text Die Frage der Laienanalyse schreibt Freud:

Ich habe Ihnen aber bereits gesagt, ich denke nicht daran, Vorschläge zu machen, die auf der Entscheidung beruhen, ob gesetzliche Regelung oder Gewährenlassen in Sachen der Analyse das Richtigere ist. Ich weiß, das ist eine prinzipielle Frage, auf deren Lösung die Neigungen der maßgebenden Personen wahrscheinlich mehr Einfluß nehmen werden als Argumente. Was mir für eine Politik des laissez faire zu sprechen scheint, habe ich bereits zusammengestellt.2

Auch wenn die Wendung »Politik des laissez faire« auf den frühen Liberalismus zu verweisen scheint, so muss sie – wiederum ent- und psychoanalytisch gewendet – auf ihre Weise verstanden werden. Denn die Psychoanalyse steht zu einer (neo-)liberal aufgefassten individuellen Freiheit quer, ebenso zu deren Kehrseite (die genauso im Zeichen des Neoliberalismus steht) der sich derzeit abzeichnenden umfassenden Tendenz zur Verrechtlichung unseres Alltagslebens. Ein Symptom davon ist die wuchernde Bürokratie, die sich u.a. in ausgeklügelten Therapie- und Sexeinverständnisverträgen konkretisiert. Die Psychoanalyse ist dazu aufgefordert, ihre Ohren davor nicht zu verschließen. Im Ruf nach Safe Spaces darf ihr der Überschuss an Verunsicherung und Aggression nicht entgehen.

Die Psychoanalyse ist durch unterschiedliche Dispositive der Sicherung und Qualitätskontrolle nicht nur in ihrer Substanz bedroht, sondern auch herausgefordert. Oft genug verschanzt sie sich selbst hinter Schutzvorrichtungen und tut sich dadurch nicht nur Gutes. Auch dagegen wollten wir einen Akzent setzen, indem wir mit einem Zitat aus Jacques Lacans Die Ausrichtung der Kur – ganz einfach (!) und direkt fragen möchten:

Der Analytiker ist der Mensch, zu dem man spricht und zu dem man frei spricht. Dafür ist er da. Was heißt das?3

~

Erhalten haben wir 30 Beiträge: von Analysant*innen und Analytiker*innen, von Kunst- und Kulturschaffenden, sowie Philosoph*innen und Literaturwissenschaftler*innen, die der Psychoanalyse nah sind und auch kritisch gegenüberstehen. Die Zuschriften erreichten uns aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, aus Frankreich, Italien, Russland und den USA. Die Vielstimmigkeit, die sich in dieser Ausgabe abbildet und die weit über den Konsens der Redaktion hinausreicht, zeigt nicht nur, wie streitbar die Psychoanalyse war und ist, sondern auch wie lebendig die anhaltende Auseinandersetzung mit ihrem eigentümlichen Stand- und Gesichtspunkt bezüglich Wahrheit, Realität, Institution, sprich: mit ihrer irreduziblen Differenz zu jeder Ausprägung von Psychologie ist und bleibt.

Camilla Croce, Judith Kasper, Karl-Josef Pazzini, Mai Wegener

Anmerkungen

1

»Chaque psychanalyse est une expérience singulière qui déroute tout programme et toute garantie a priori. Elle se fonde sur un rapport au symptôme qui vise à en extraire la vérité et non à l’éradiquer en vue d’une normativité. En ce sens, elle est antagonique de toute psychothérapie. D’autre part, alors même que ses effets thérapeutiques sont avérés, il faut rappeler que la psychanalyse est née du refus de subordonner son action à la suggestion, ce en quoi elle se démarque encore de la psychothérapie.« (Manifeste pour la psychanalyse. Pétition lancée en février 2004, in Sophie Aouillé, Pierre Bruno, Franck Chaumon, Guy Lérès, Michel Plon, Erik Porge, Manifeste pour la psychanalyse, Paris 2010, La Fabrique, 142–143).

2

Sigmund Freud, Die Frage der Laienanalyse, in ders., Gesammelte Werke, London 1940–52, Imago, XVI, 271f.

3

Jacques Lacan, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (1958), in ders., Schriften I, ausgewählt und übers. von Norbert Haas, Olten, Freiburg, Walter-Verlag 1973, 171-239, 206; »L’analyste est l’homme à qui l’on parle et à qui l’on parle librement. Il est là pour cela. Qu’est-ce que cela veut dire ?« in Lacan, La direction de la cure et les principes de son pouvoir, in ders., Écrits, Paris, Seuil 1966, 585-645, 616.